Seite:Die Gartenlaube (1873) 558.JPG

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Wer weiß, ob diese mythologische Vorstellung nicht völlig zur Sache gehört und ob heftige nächtliche Insectenplagen nicht die häufigsten Ursachen schwerer Vampyrträume werden! Der Umstand, daß in Europa wenigstens die Heimath der Flöhe und Vampyre dieselbe ist, könnte einen Naturforscher stutzig machen.

Im classischen Alterthume verquickte sich der Vampyrglaube mit der mythischen Vorstellung, daß warmes Menschen- oder Thierblut die Lieblingsnahrung der Götter, Dämonen und Manen sei, weshalb man auch die Letzteren bei der Nekromantie mit dem Dampfe warmen Blutes anlocken zu können glaubte. Daneben treten aber auch Dämonen auf, die lebendigen Menschen das Blut aussaugen, sie dadurch langsam entkräften und dem Tode weihen; der Unterschied des Heidenthums vom Christenthume zeigt sich auch hier darin, daß diese Dämonen in reizender Gestalt dem Menschen nahen. Es sind insbesondere die Lamien, weniger die Strygen und Empusen, welche hierher gehören.

Philostratus in seiner Lebensbeschreibung des Apollonius von Tyana, die einige Kritiker für eine heidnische Concurrenzschrift der Evangelien gehalten haben, erzählt, daß dieser Heilige einst in Corinth seinen jungen und schönen Freund Menippus aus den Klauen einer Lamia, welche die Gestalt eines reizenden jungen Weibes angenommen hatte und sich nur den jungen Männern näherte, befreit habe. Aus diesen echtgriechischen Phantomen entwickelten sich später die sogenannten Incuben und Succuben, männliche und weibliche Dämonen höllischer Natur, die viele Analogie mit den Vampyren bieten, da sie bei ihren wiederholten nächtlichen Besuchen gleichfalls ihre Opfer entkräften und tödten. Ihre Dämonennatur unterscheidet sie von den echten Vampyren, die höchstens Teufelsbesessene sind.

Zum ersten Male tritt uns in der Literatur ein echter Vampyr in einem griechischen Märchenbuche aus dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung entgegen, in den „Wunderbaren Geschichten“ des Phlegon aus Tralles. Es ist hier, wo Altmeister Goethe den Stoff zu seiner „Braut von Corinth“ geschöpft hat. In welchem Grade dann gerade dieser düstere Gegenstand die dichtende Phantasie des Menschen angezogen hat, ergiebt sich aus den zahlreichen Meisterwerken der Poesie, die demselben Gegenstande gewidmet sind. Ich begnüge mich, an Byron’s „Vampyr“ und an Balzac’s ergreifende Erzählung „Der Succubus“ zu erinnern. Vampyr-Opern haben unter Anderen Marschner und Lindpaintner componirt; ja selbst in den Werken der Tanzkunst übt die schaurige Idee eines Verkehrs der Todten mit den Lebenden ihren dämonischen Zauber, wie z. B. die hier in Berlin beliebten Ballete Morgano und die Willi’s – denn diese todten Tänzerinnen sind offenbar die weiblichen Gegenstücke der männlichen Vampyre – beweisen.



Blätter und Blüthen.

König Lear. (Mit Illustration, S. 547.) Zu dieser königlichsten unter den Tragödien des Dichterkönigs Shakespeare besitzen wir eine ansehnliche Reihe von zeichnerischen Darstellungen, welche, die Kaulbach’schen an der Spitze, dieses Trauerspiel entzügelter Leidenschaft, in welchem Kinder aufstehen gegen Eltern, Eltern gegen Kinder, Gatten gegen Gatten und Geschwister gegen Geschwister, würdig illustriren. Heute machen wir das Publicum mit einer neuen Lear-Illustration bekannt, mit August von Heckel’s „Verstoßung der Cordelia“.

Das Bild stellt die berühmte, aber vielfach (namentlich von Goethe) angefochtene Eingangsscene der Tragödie dar: König Lear hat beschlossen, sein Reich unter seine drei Töchter, Goneril, Regan und Cordelia, zu theilen, und thront, umgeben von diesen und den Gatten der beiden erstgenannten, den Herzögen von Cornwall und Albanien, in seinem Prunkgemache aus steinernem Lehnsessel, um das Geschäft der Theilung vorzunehmen. Auch der Graf von Kent und des Königs steter Begleiter, der Narr, sind anwesend. Lear fordert seine Töchter auf, ihrer Kindesliebe in Worten Ausdruck zu leihen, damit er nach Maßgabe der kindlichen Zuneigung jeder Einzelnen das Reich unter sie theile. Mit hochtönenden Worten schütten nun Goneril und Regan nacheinander das reiche Füllhorn einer künstlich ausstaffirten Scheinliebe vor dem Vater aus. Aber Cordelia? Was hat sie zu sagen, um sich ein reicheres Dritttheil zu gewinnen als die wortgewandten Schwestern? Sie kann „ihr Herz nicht auf die Lippen heben“; denn wahre Liebe kennt keinen Prunk der Worte. Cordelia schweigt. Aber Lear, halb zornig, dringt in sie, zu reden. Da entspinnt sich zwischen ihr und dem Könige folgendes Zwiegespräch:

Cordelia.
Mein theurer Herr,
Ihr zeugtet, pflegtet, liebtet mich; und ich
Erwidr’ Euch diese Wohlthat, wie ich muß,
Gehorch’ Euch, lieb’ Euch und verehr’ Euch hoch.

5
Wozu den Schwestern Männer, wenn sie sagen,

Sie lieben Euch nur? Würd’ ich je vermählt,
So folgt dem Mann, der meinen Schwur empfing,
Halb meine Treu’, halb meine Lieb und Pflicht.
Gewiß, nie werd’ ich frei’n wie meine Schwestern,

10
Daß ich allein den Vater liebte.


Lear.
Und kommt Dir das von Herzen?

Cordelia.
Ja, mein Vater!

Lear.
So jung und so unzärtlich?

Cordelia.
So jung, mein Vater, und so wahr.

Lear.

15
Sei’s drum. Nimm Deine Wahrheit dann zur Mitgift

Denn bei der Sonne heil’gem Strahlenkreis,
Bei Hekate’s Verderben, und der Nacht,
Bei allen Kräften der Planetenbahn,
Durch die wir leben und dem Tod verfallen,

20
Sag’ ich mich los hier aller Vaterpflicht,

Aller Gemeinsamkeit und Blutsverwandtschaft,
Und wie ein Fremdling meiner Brust und mir
Sei Du von jetzt auf ewig. Der rohe Scythe,
Ja der die eignen Kinder macht zum Fraß,

25
Zu sätt’gen seine Gier, soll meinem Herzen,

So nah stehn, gleichen Trost und Mitleid finden,
Als Du, mein weiland Kind.

Kent.
O edler König!

– und diese Dazwischenkunft Kent’s, sie bezeichnet den Moment, den unser Bild darstellt, einen großen Moment in der glücklichsten künstlerischen Wiedergabe. In Heckel’s Bild ist Alles Harmonie, Alles Größe und Ebenmaß; was dasselbe aber als ein Erzeugniß echten, ursprünglichen Künstlergeistes kennzeichnet, das ist die Tiefe und Fülle der Charakteristik der dargestellten Gestalten und ihre wirkungsvolle Contrastirung und edelschöne Gruppirung. Da haben wir in seiner Ueberkraft der Leidenschaft den herrischen und excentrischen, leichtbeweglichen und ausfahrenden, aber im Grunde seiner Seele edlen und großherzigen König Lear, diesen Giganten in einer Zeit wilden Heidenthums, vor dem „der Unterthan zitterte, wenn sein Auge starrte“, und „an dem das Beste und gesündeste immer rasch“, an dem „jeder Zoll ein König“ war. Da haben wir das dämonische Schwesterpaar, Goneril und Regan, die erstgeborene mit dem massiven Haupte voll männlicher Selbstständigkeit und Thatkraft, voll Kälte und Unerschrockenheit, voll Sinnlichkeit und Grausamkeit, und neben ihr die jüngere, von minder festem Stoff geformte, deren böses Wesen, passiver, lässiger, beschränkter als das der andern, sich aus knechtischer Abhängigkeit und tückischer Verstecktheit zusammensetzt und deren nie ergründetes Herz der wahnsinnige Lear „anatomirt“ haben will. Da haben wir ferner als mächtig wirksamen Gegensatz zu diesen Beiden die sanfte, milde Cordelia, ganz unschuldvolle, sittsame Jungfräulichkeit, ein Bild schönster Weiblichkeit und weiblichster Schönheit. Und doch – mit welcher Feinheit und völlig im richtigen Verständnisse des Dichters hat es der Maler verbanden, ihr einen Zug zu geben, welcher, anscheinend ihrem Wesen widersprechend, auch in ihrer Erscheinung den Charakter ihrer Familie durchblicken läßt! „In die Milch ihrer sanften Gemüthsart ist ein Tropfen Galle aus ihres Vaters Hartnäckigkeit gemischt,“ sagte Gervinus. So auch bei Heckel’s Cordelia. Neben Sinnigkeit und Anmuth trägt ihre ganze Erscheinung das Gepräge eines festen, fast unbeugsamen Charakters.

Vollendet schön und in ihrer untergeordneten Bedeutung die Wirkung des Ganzen steigernd, sind auch die Nebengestalten des Bildes dargestellt. Zu je einer Seite der Hauptgruppe sehen wir links vom Beschauer den männlich entschlossenen, eben heftig ausfahrenden Kent, rechts den trefflichen Narren, einen sinnenden Philosophen in der Schellenkappe, im Hintergrunde des Bildes aber den guten Albanien und den bösen Cornwall, die schon erwähnten Gatten Goneril’s und Regan’s. Sind nicht alle diese Charakterköpfe aus ganzem Holze, dem besten Holze künstlerischer Vollkraft geschnitten?

So ist denn mit dieser neuen Shakespeare-Illustration abermals dargethan, daß der bildende Künstler seine schönsten Triumphe auch da zu feiern im Stande ist, wo er seinen Stift in den Dienst seines Bruders, des Dichters, giebt. Was Dieser, dem leiblichen Auge unsichtbar, Geistiges schafft, das soll Jener, gleich dem Mimen, dem anderen Dolmetscher des Dichters, in Formen und Farben hinübertragen in die sichtbare Welt her Körper und Sinne.

E. Z.

Aufruf. Wilhelm Beltz machte im Frühjahr 1869, damals zwanzig Jahre alt, als Matrose eine Reise nach Rio de Janeiro mit auf der oldenburgischen Brigg „Industrie“ und verließ mit noch drei oder vier seiner Mitmatrosen in Rio sein Schiff, wie es scheint, um von demselben zu entfliehen. Da Wilhelm Beltz einen Bruder in Buenos-Ayres hat, so lag die Vermuthung nahe, daß er letzteren Platz zu erreichen suchen würde; indessen ist das nicht geschehen. Da Beltz früher stets pünktlich geschrieben hatte, so ist sein Schweigen sehr beunruhigend. Seine Mutter, die Frau Doctor Beltz in Wiesbaden, tiefgebeugt und krank, hat nur den einen Wunsch noch, sobald als möglich sichere Kunde über ihren Sohn zu erhalten, die auch in Erbschaftssachen von Nutzen wäre.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_558.JPG&oldid=- (Version vom 3.8.2020)