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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

Deutschlands Corinna.


Es war im Herbste 1866, als ich auf der Heimreise aus der Schweiz von einem Stuttgarter Freunde eingeladen wurde, den Abend in seiner Familie zu verleben. Ich nahm die Einladung in der Voraussetzung an, nur meinen Freund mit den Seinigen zu treffen, und war nicht wenig überrascht, eine auserlesen glänzende Vereinigung der bedeutendsten Männer und der anmuthigsten Frauen Stuttgarts zu finden: Künstlerinnen, Dichter, Schriftsteller und Beamte.

Leicht und ungezwungen floß die quellsprudelnde Unterhaltung, bald scherzhaft heiter, bald ernst gelehrt, und kaum ist mir ein Abend anregender dahin geschwunden, wie jener.

Dies verdankten wir vorzugsweise einer außergewöhnlichen Frauenerscheinung, die, eine angehende Fünfzigerin und etwas unter Mittelgröße, durch ihr imponirendes, einnehmendes und bewegliches Wesen, wie durch ihre ausdrucksvolle und sympathische Stimme auffiel, und deren tiefdunkle Augen sich die zündende Gluth früherer Jahre vollständig bewahrt hatten. Ihren Namen – Frau Professor Pierson – hatte ich beim Eintritte nur flüchtig gehört und dachte nicht daran, daß ich es hier mit einer Berühmtheit zu thun habe. Durch die Gewandtheit ihrer geistvollen Unterhaltung zog sie jedoch bald genug auch meine Aufmerksamkeit auf sich.

Die verständnißvolle Wirthin, die man für eine Schwester jener interessanten Frau halten konnte, da ihre dunklen Augen die südliche Gluth der Pierson’schen theilten, hatte für einen Augenblick neben derselben Platz genommen. Frau Pierson’s Hand in der ihrigen haltend, lauschte sie der immer lebhafter sich gestaltenden Unterhaltung, welche sich um das Liederbuch des Hymnologen A. Knapp drehte. Einige Mitglieder der Gesellschaft pflichteten dem berüchtigten verurtheilenden Ausspruche über Goethe in Knapp’s „Christoterpe“ bei und suchten die Behauptung zu erweisen, Goethe verderbe die Jugend.

Unsere Wirthin ergriff das Wort: „Meine Herrschaften, es ist Ihnen wohl Allen zur Genüge bekannt, daß meine berühmte Freundin hier als Deutschlands Corinna gepriesen wird. Wie wäre es daher, wenn wir sie ersuchten, von ihrem Talente eine Probe zu geben und sich unparteiisch – wie mein Mann immer sagt: sine ira et studio – zu erklären, ob auch sie die Lectüre Goethe’s für die Jugend verwerflich halte; ihr Richterspruch soll letztinstanzliche Entscheidung der Meinungsverschiedenheit sein. Sind Sie zufrieden?“

„Gerne zufrieden,“ jubelten die aus peinlicher Situation erlösten Gäste.

„Damit wir es unserer Corinna nicht zu leicht machen,“ setzte unsere Wirthin hinzu, „so möge sie ihr Urtheil in Form einer Epistel an ihren Sohn richten, an den hoffnungsvollen Studenten der Medicin dort, den ich längst in seiner begeisterten Unterhaltung mit seiner Nachbarin hätte stören sollen.“

Ohne Widerrede ergriff die nunmehr als Deutschlands Corinna eingeführte Frau Professor Pierson unter einer leichten anmuthsvollen Verbeugung das Wort:

 An meinen Sohn.

Was auch von Goethe ich gelernt,
     Nie hat es mich von Gott entfernt,
Denn jedes seiner Worte weist
     Schon durch sich selbst den heil’gen Geist.
Lies, Sohn, in allen Lebenslagen
     Im grünen Buche der Natur!
Horaz, Homer! Doch lasse nur
     Auch stets den Goethe aufgeschlagen!
Trägt Schiller Dich zum Sternenzelt,
     Zeigt Goethe Dir die bunte Welt:
Und Jeder muß sich doch bequemen,
     Die Welt – so wie sie ist – zu nehmen.“

Nach dieser geistvollen Leistung war es mir klar: die geniale Frau Professor Pierson mußte ein und dieselbe Person wie Caroline Leonhardt-Lyser sein. Und ich hatte mich nicht geirrt.

Ich stelle sie weit über die Karschin und behaupte, daß bei ihrer Beurtheilung ohne Scheu ein ganz außerordentlicher Maßstab angelegt werden darf. Nicht sowohl ist es die Conception der Form und die Technik des Improvisirens, wie vielmehr der Geist, den sie der Form einzuhauchen weiß: der durch das Medium des Herzens hindurchgegangene und verinnerlichte tiefe Gedanke, den sie blitzartig mit der schönen Form zu umkleiden versteht. So nur ist es zu erklären, daß viele ihrer Improvisationen nicht bloße flüchtige Producte einer reimgeübten Dichterin sind, sondern – es ist nicht zu viel gesagt – poetische Erzeugnisse echter Begeisterung. Nord- und Mitteldeutschland ist arm an solchen Stegreifdichtern und ‑Dichterinnen. Unser norddeutsches Klima scheint eben nicht sonderlich dazu angethan, Naturen in großer Fülle zu erzeugen, die innerlich lodern und brennen wie feuerspeiende Berge, und die bei jeder Veranlassung Dithyramben flammen, Sonette und Ghasele regnen oder makamenartige Märchen convulsivisch produciren, wie man es beim feurigen Volksgeiste südlicher Völker wohl öfters findet. Die deutsche Sprache – schwer, gemessen, ernst, nüchtern, mannigfach in ihren Reimen, arm an Wörtern eines Klangs, nach Correctheit und Bestimmtheit des Ausdrucks ringend – ist eine widerspenstige Brunhilde, die sich nur gezwungen der Kunst des Improvisators beugt, ja, die nicht selten durch ihre Begriffe fordernde kühne Selbstständigkeit die Pläne des Meisters kreuzt, so routinirt derselbe in Hinsicht auf Phantasie und Gedächtniß und so imponirend auch immer sein Vorrath an Reimen und poetischen Floskeln sein mag. Dazu kommt noch, daß der Deutsche die Entfaltung des Improvisators auch nicht im Entfernten ermuthigt. Er verhält sich ihm gegenüber ablehnend, kritisch, überbedachtsam, und sträubt sich dagegen, die Poesie so ohne Weiteres in ihrer vollsten Unmittelbarkeit, in ihrem Naturzustande entgegen zu nehmen. Es reizt ihn zwar, den aller Hülfsmittel beraubten, völlig wehrlosen, nur mit seinem inneren Reichthume ausgestatteten Improvisator sich ängstlich winden zu sehen, oder aber denselben im Hervorsprudeln von Gedanken und Bildern anzustaunen; aber er ist dann rasch fertig, die Kunst des Improvisators für Spielerei und geistige Seiltänzerei zu erklären, und dessen Gaben für leichte, unreife, gehaltlose Producte zu nehmen.

– Inzwischen hatte uns unsere Wirthin ein Poesie-Album mit zwei improvisirten, unverändert gebliebenen Sonetten der Frau Leonhardt-Pierson vorgelegt, zu welchen König Friedrich Wilhelm der Vierte von Preußen den Stoff angegeben hatte. Das Thema war: „1) Sonett: Tasso an Leonore, den Frühling schildernd und seine Liebe gestehend; 2) Sonett: Leonorens Antwort mit Hindeutung auf ihren Stand; beide Sonette sollen sich verhalten wie Brief und Antwort.“

Frau Pierson lehnte es ab, uns diese Sonette vorzulesen. Dann aber erhob sie sich lächelnd mit den Worten: „Das wäre mir eine schöne Improvisatrice, bei welcher ein so guter Stoff nicht den Entschluß zu einer neuen That hervorriefe,“ und mit ergreifender Accentuation und Modulation begann sie:

 Tasso an Leonore.

Warum ich, Hohe, Dir dies Blättchen sende?
     Der Frühling strahlt, drum darfst Du so nicht fragen.
     Mit frischen Rosen soll’s der Zephyr tragen
     In Deine Laube, Deine zarten Hände.

O, daß der süße Frühling nimmer schwände,
     Fort töneten der Nachtigallen Klagen
     Gleich bunten Märchen aus den goldnen Tagen,
     Daß ich im Haine hier den Feenstab fände;

Gedanken, liebevoll Dir zugewendet,
     Sie webte ich für Dich zum Netz, zum zarten,
     Sie hielten Dich, wo Du auch wärst, umsponnen.

Was Sehnsucht, Lieb’ und Treu’ in mir bewahrten,
     Erblühte jetzt im Lenz, würd’ reif, vollendet,
     Und stets bei Dir lebt’ ich in ew’gen Wonnen.“

Die geistvolle Frau ließ sich durch den unterbrechenden Beifall nicht stören und fuhr schlagfertig fort:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 711. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_711.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)