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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)

ein „Nationaldenkmal“ wurde würdig hergestellt, aber damit waren auch alle Mittel erschöpft. Bis zum Jahre 1858 blieb es bei allen guten Wünschen, dann wandte sich das Comité wieder an ganz Deutschland – man sammelte vorerst zum Ankaufe des Geburtshauses. Der Erfolg gab genügende Mittel zur Erwerbung und Wiederherstellung desselben, wie zur Grundsteinlegung des Denkmals auf der Schillerhöhe, welche am 11. November 1859 feierlichst stattfand. – Endlich, nach einer so langen Frist, wird nun die Enthüllung des Ehrendenkmals, das nach einem Modelle des verstorbenen Bildhauers Rau von Professor Döllinger ausgeführt und von Pelargus gegossen worden ist, am 9. Mai dieses Jahres stattfinden.

Der hundertjährige Dichtergeburtstag gab Anregung zu verschiedenen Stiftungen für Marbach. Die Hanauer Gymnasiasten hatten ein kleines Capital gesammelt, von dessen Zinsen jährlich zu Schiller’s Geburtstage ein frischer Lorbeerkranz gespendet wird, welcher die Büste schmückt. Der Wiener Schiller-Verein „Glocke“ beschenkt seit 1867 an eben diesem Tage einen Marbacher Schiller mit Schiller’s Gedichten und einem Goldstücke. Das sinnigste und größte Geschenk aber gaben die Deutschen in Moskau, indem sie für die Alexander-Kirche eine Glocke stifteten. Seit dem 10. November 1860 tönt am Geburts- und Sterbetage Schiller’s der Klang der „Concordia“ über den Neckargau dahin, sein Andenken feiernd mit ehernem Schalle.

Das Schiller-Denkmal selbst zu Marbach und die bei seiner Enthüllung stattfindenden Feierlichkeiten werden den Gegenstand eines demnächst folgenden zweiten Artikels bilden.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.
Von Heinrich Lang in Zürich.
IV. 5. Die „Tübinger Schule“.


Trotz der vielfachen Ungunst der Zeit, von welcher damals die theologischen Studien gedrückt wurden, ist mir doch Ein Glück widerfahren, das ich nicht aufhören werde, dankbar zu rühmen: ich hatte Ferdinand Christian Baur zum Lehrer und zwar gerade in der Zeit, da er im frischen Zuge seiner epochemachenden Entdeckungen war.

Ich sehe noch die hohe ehrwürdige Gestalt mit dem feinen, charaktervollen Kopfe, mit der hochgewölbten Stirn, mit den krausen Haaren, die schon in das Grau des Alters spielten – er stand in der Mitte der Fünfziger – wie er Morgens acht Uhr von der Hölle her – so nannte man seine Wohnung wegen ihrer tiefen Lage; die Orthodoxen dachten sich dabei noch ganz andere Beziehungen – gegen das Colleg schritt, nachdem er schon vier Stunden angestrengter Arbeit hinter sich hatte; er stand Sommers und Winters um vier Uhr am Pulte, im Winter einige Stunden in der ungeheizten Stube, um die Mägde zu schonen. Ich sehe ihn noch, wie er gegen Abend langsamen Schrittes, gedankenvoll seinen regelmäßigen Spaziergang die Neckarstraße hinunter über den Wörth machte, eine ehrfurchtgebietende Erscheinung. Ich habe Niemand gehört, der über diesen Mann Uebles gesprochen hätte. Natürlich verfluchte man ihn Land auf und ab als den großen Heiden und Ungläubigen, der das Gift der Gottes- und Christusleugnung in die Herzen der künftigen Diener der Kirche aus voller Schale gieße, und die Träger der kirchlichen Reaction reizten oft und auf alle Weise die Regierung zum Einschreiten. Aber nicht blos erkannte Jedermann Baur’s enormes Wissen und seine selbstlose Hingebung an die Aufgabe der Wissenschaft bereitwillig an, sondern es wagte auch Niemand, den großen und reinen Charakter anzutasten. Denn die Tugenden der reinsten Humanität, ein Adel der Gesinnung und eine Kindlichkeit des Herzens im schönsten Sinne des Wortes, eine Anspruchslosigkeit, Bescheidenheit, Schlichtheit des Wesens bei allem berechtigten Selbstgefühle, ein offenes Auge und ein warmes Interesse für alles Menschliche bei aller Concentration auf sein Fach, eine wohlwollende Milde und Lindigkeit bei aller Schärfe eines ausgeprägten Charakters, ein freundlich eingehendes Verständniß für fremde Art und Ueberzeugung, sobald sie nicht fanatisch war, leuchteten Jedem aus diesem großen Gelehrtenleben entgegen.

Viele meinten, der Mann sei ausschließlich Kopf, gleichsam der verkörperte kritische Verstand, und Solche, welche auf Geistreichheit oder fromme Empfindsamkeit reisten und des Wunders halber bei ihm einkehrten, fanden sich wenig angesprochen von der ruhigen Sachlichkeit seiner Rede und seines Wesens und posaunten dann in die Welt hinaus, bei Baur sei Alles, was sonst ein Menschenherz erfülle, verschlungen von einem einseitigen Intellectualismus. Sie maßen die Größe nach ihrer Kleinheit. Baur hielt, wie Lessing, viel auf reinliche Sonderung der Gebiete: Gott, was Gottes, dem Kaiser, was des Kaisers – dem Verstande was des Verstandes, und dem Gemüthe, was des Gemüthes ist. Nie mischte er in Fragen, welche der Verstand zu entscheiden hat, sogenannte Bedürfnisse des Glaubens oder des Gemüthes. Das vierte Evangelium z. B. war seinem tiefsinnigen Geiste in seiner Art ebenso sympathisch wie einem Schleiermacher, aber diese Sympathie verhinderte seinen Verstand nicht, das Buch genau so zu erkennen, wie es ist, und gestützt auf diese kaltblütige Untersuchung zu erklären, daß es ein verhältnißmäßig spätes Erzeugniß sei, daß es nicht herrühre von „dem Jünger, den der Herr lieb hatte“, daß sein Christus weder der Jesus der Geschichte, noch der Christus des eigenen Glaubens sei. Darum waren die Lösungen der wissenschaftlichen Aufgaben bei Baur so klar, so durchschlagend, so fruchtbar und fördernd. Aber das treffende Wort Schelling’s: „das Gemüth ist schön, wenn es im Grunde bleibt“, verstand er sehr wohl. Er trug eine seltene Fülle und Tiefe des Gemüthes in sich nicht blos für den Hausgebrauch des täglichen Lebens, sondern gerade auch für die Behandlung der großen Aufgaben der Religion, in welchen sein Lebensberuf lag. Seine ganze Weltbetrachtung war eine tiefreligiöse, und nur wer die Thatsache der Religion so warm und lebendig in sich erfahren hatte, konnte alle diese dogmatischen und historischen Fragen, die zum Wesen der Religion nicht gehörten, so ruhig kritisch behandeln in der Ueberzeugung, daß die Frömmigkeit dabei nicht verliere, sondern gewinne.

Es war eben in den vierziger Jahren, in welche meine Studienzeit fiel, daß Baur nach langen, mühseligen Vorarbeiten seine epochemachenden Werke veröffentlichte, seine für die ganze Evangelienfrage grundlegende Abhandlung über das vierte Evangelium, sein umfassendes Werk „Paulus, der Apostel Jesu Christi“, das in drei Abtheilungen das Leben, die Schriften, die Lehre des Heidenapostels behandelte, und seine „Kritischen Untersuchungen über die canonischen Evangelien“.

Ich kann auf jene Zeit nur mit Neid und Wehmuth zurücksehen. So viel Neues lernt man später kaum im ganzen Leben wieder, als man damals in einem Jahre lernen konnte. All diese reifen köstlichen Früchte genoß man gleichsam frisch vom Baume weg; es war Einem, als hätte man sie schütteln geholfen. Die Wahrheit war wie ein flammendes Feuer, das einen ganzen Wald angelernter Vorurtheile in Brand setzte und weithin Licht verbreitete. Die „Decke Mosis“ fiel von den Augen und mit aufgedecktem Angesichte sah man die alten Zeiten, die wichtigsten Zeiten, von welchen der Strom unserer tiefsten Bildung ausging, in ihrer natürlichen und ursprünglichen Beleuchtung aufsteigen. Das Unverstandene und dumpf Angestaunte schloß sich auf; das Starre kam in Fluß; das Abgerissene wurde eingereiht in den Zusammenhang der natürlichen und begreifliche Geschichte. Wer mit der Freude und Unbefangenheit eines jugendlich strebenden Geistes sich diesen Entdeckungen der Wissenschaft hingab, der wußte es ein für alle Mal, daß die Erkenntniß der höchste Genuß ist.

Die Anhänger der kirchlichen Ueberlieferung erheben den hartnäckigen Vorwurf, daß Baur ein negativer, das heißt nur ein auflösender und verneinender Theologe gewesen sei. Nur die Beschränktheit kann so urtheilen. Baur ist im wahren Sinne des Wortes der positivste Theologe des Jahrhunderts. Er hat die verschütteten Anfänge des Christenthums wieder entdeckt und an der Stelle des conventionellen, aber unmöglichen das wahre

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 288. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_288.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)