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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Das Jahrzehnt von 1830 bis 1840 brachte dem Tunnel manchen achtbaren Zuwachs, als A. Wollheim da Fonseca (Byron), Heinrich Smidt (Bürger; † 1867), den ehemaligen Assessor und spätern Staatsminister H. von Mühler (Cocceji; † 1874), Dr. Adolf Löwenstein (Hufeland), Bernhard von Lepel (Schenkendorf), Dr. Werner Hahn (Cartesius) und Andere.

Zu diesen gesellten sich in der nächstfolgenden Zeit Wilhelm von Merkel (Immermann; † 1861), Chr. Fr. Scherenberg (Cook), Dr. Rudolf Löwenstein (Spinoza), Theodor Fontane (Lafontaine), Emanuel Geibel (Bertran de Born), Dr. Fr. Eggers (Anakreon; † 1872), Moritz Graf Strachwitz (Götz von Berlichingen; † 1847), Georg Hesekiel (Claudius; † 1874), Paul Heyse (Hölty), Franz Kugler (Lessing; † 1858), Friedrich von Gaudy (Zieten; † 1866), Hugo von Blomberg (Maler Müller; † 1871), K. Bormann (Metastasio), Max Ring (Zinzendorf) etc. Und nicht allein Dichter und Schriftsteller zählte der Tunnel zu seinen Mitgliedern, sondern auch bildende Künstler, Maler und Tonkünstler wurden gern aufgenommen und brachten ein neues, belebendes Element in den Tunnel, so der Bildhauer Wilhelm Wolff (Peter Vischer), die Maler Adolf Menzel (Rubens), Th. Hosemann (Hogarth; † 1875), Stilke (Raphael Mengs; † 1860), L. Burger (Graff) und der Obercapellmeister Taubert (Dittersdorf). Die meisten der Obengenannten traten in ihrer vollen frischen Schaffenskraft in den Tunnel und haben sich durch die Gaben ihrer Muse später in weiten Kreisen Anerkennung erworben. Außer diesen arbeitenden Mitgliedern der sogenannten „Maculaturen“ gab es auch eine Anzahl von Nichtarbeitenden oder „Classikern“, welche den Tunnel durch ihre lebhafte Theilnahme an seinem Schaffen erfreuten und sich an der Beurtheilung der „Spähne“ – so nannte man die zum Vortrage kommenden Arbeiten der Maculaturen – betheiligten. So zählte der Tunnel nach fünfundzwanzigjährigem Bestehen bereits einhundert Namen in seiner Mitgliederliste und feierte sein silbernes Jubiläum (3. December 1852) unter der lebhaften Betheiligung von Mitgliedern und Gästen oder „Runen“.

Den glänzendsten Zeitraum in der fünfzigjährigen Geschichte des Tunnels bildet wohl das dritte Jahrzehnt seines Bestehens (1847 bis 1857), das ist die Zeit des Ueberganges von der Poesie des Weltschmerzes und der politischen Verzweiflung zu einer auf gesunden und naturwahren Empfindungen beruhenden Richtung, welche in unserer Literatur sich durchzuarbeiten begann. Damals ließ Geibel seine „Gedichte“ und „Juniuslieder“ in immer neuen Auflagen in die Welt hinausflattern; in den Liedern und Balladen von Strachwitz schien die Muse der Romantik wieder erwachen zu wollen; Paul Heyse dichtete mit Wieland’scher Grazie seine formvollendeten „Novellen in Versen“ und „Idyllen aus Sorrent“; Th. Fontane brachte aus dem schottischen Hochlande schwungvolle „Balladen“ heim und B. von Lepel erfreute den Tunnel mit seinen in Platenscher Formgewandtheit gedichteten Oden und Hymnen und mit den heiteren Reimen seiner „Zauberin Kirke“. Das Drama war durch Wollheim da Fonseca („Rafael Sanzio“, „Sebastian“) und die epische Dichtung durch Scherenberg’s vaterländische Schlachtgesänge („Waterloo“, „Leuthen“) vertreten, während G. Hesekiel und H. Smidt das Gebiet des Romans und der Novelle cultivirten. Die meisten dieser Geisteswerke bestanden erst im Tunnel die Feuerprobe der Kritik, ehe sie in das große Publikum hinausgesandt wurden.

Versetzen wir uns einmal in den alten Tunnel zurück, um einer Arbeitssitzung in jener Zeit beizuwohnen! Ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig Mitglieder haben sich in den wohlbekannten Räumen des Café Belvedere zusammengefunden. Franz Kugler, W. von Merkel oder K. Bormann bekleiden die Würde des Vorsitzenden, während B. von Lepel, Th. Fontane oder H. von Blomberg das Amt des Schriftführers verwalten. Der Vorsitzende oder das „angebetete Haupt“, wie der Tunnel nach altem Herkommen sein erwähltes Oberhaupt anredet, führt als Attribut seiner Würde einen mächtigen, schwarzen Stab, auf welchem eine vergoldete Eule mit dem Spiegel und Stiefelknecht in den Klauen thront. Ein Stoß mit dem Eulenstabe auf den Fußboden bedeutet eine Aufforderung an die Mitglieder, ihre Plätze einzunehmen; ein zweiter Stoß giebt das Zeichen zum Beginn der Sitzung.

Nachdem der Secretär das Protocoll der vorigen Sitzung vorgelesen, ergeht von Seiten des Hauptes die Frage nach „Spähnen“. Diese sollen statutenmäßig bereits vor dem Beginn der Sitzung auf dem Bureau des Hauses niedergelegt werden, aber an Stelle des gedachten Statuts hat sich bereits das Herkommen gesetzt, daß die Mitglieder es vorziehen, ihre Spähne in der Tasche zu behalten, und es bedarf oft einer zweiten oder noch öfteren Aufforderung des Hauptes, um sie daraus hervorzulocken. Nicht immer ist dem Dichter auch die Gabe des Vortrages eigen, und mit einer gewissen Befangenheit hatte wohl Jeder zu kämpfen, der einmal den Platz an dem grünen Tische dem Haupte gegenüber einnahm, aber der lebendige Vortrag durch den Dichter selbst hat einen besonderen Reiz und läßt zugleich die Eigenart des Dichters durchklingen. Leicht und liebenswürdig klangen Heyse’s Dichtungen; frisch und ursprünglich, als wären sie eben aus lebendigem Quell geschöpft, wirkten Fontane’s Hochlandsballaden; gleich stürmenden Schwadronen, über Stock und Stein, brausten Scherenberg’s Schlachtgesänge vorüber, oft so wild und heftig, daß man noch eine Weile sich besinnen mußte, was man eigentlich gehört. Ruhigen, breiten Schrittes, als wär’ er noch an Bord, ging der gemüthliche Holsteiner, der wohlbeleibte Heinrich Smidt, an den Vorlesertisch, um seine Seegeschichten oder seine Devrient-Novellen vorzutragen; plötzlich und unvermuthet, wie sein Taufpathe „Zieten aus dem Busch“, tauchte der schlanke Garde-Officier Friedrich von Gaudy[1] aus dem Hinterhalte hervor, um den Tunnel mit einer militärischen Humoreske zu überfallen.

Bei Spähnen, deren Vorlesung mehr als eine Stunde füllte, wurde die Besprechung derselben auf den nächstfolgenden Sonntag vertagt; bei lyrischen Gedichten, Balladen, kurzen Novellen oder Lustspielen knüpfte sie unmittelbar an die Vorlesung an. Es gab keine Fractionsbildung im Tunnel, keine Rechte und Linke und noch weniger ein Centrum; dennoch waren bei der Handhabung der Kritik die Standpunkte sehr verschieden. Einige suchten ihr Urtheil über einen mißlungenen Spahn womöglich dadurch zu mildern, daß sie noch eine gute Seite daran hervorhoben; Andere schwangen rücksichtslos die Geißel der Kritik, wo die Wahl des Stoffes, die Art der Behandlung oder die dichterische Form einen Anlaß zum Tadel boten. Oft waren die Urtheile sehr abweichend; die Gemüther erhitzten sich und das angebetete Haupt hatte Mühe, die Debatte in ihrem ruhigen Geleise zu erhalten. Aber auch die schärfste Beurtheilung schloß bei der stets vorwaltenden Gemüthlichkeit jede Bitterkeit aus, und die Vertreter eines liebenswürdigen Humors – W. v. Merkel, L. Schneider, Ad. und Rud. Löwenstein, C. Erich – wußten durch eine in die Debatte hineingeworfene witzige oder wortspielende Bemerkung, vielleicht auch durch einen zur rechten Zeit explodirenden Kalauer, die schwüle Atmosphäre zu theilen und die heiterste Temperatur in den Tunnel zurückzuführen.

Vortrefflich verstand es Franz Kugler als Haupt beim Schluß der Debatte die verschiedenen Ansichten in einem Gesammturtheil zusammenzufassen, aber das Gesetz forderte noch eine namentliche Abstimmung, bei welcher jedes anwesende Mitglied sein Urtheil über den vorgelesenen Spahn in Form eines der fünf Prädikate: „sehr gut“, „gut“, „verfehlt“, „ziemlich“ oder „schlecht“ abzugeben hatte, deren Mehrheit als Tunnel-Votum dem Verfasser mitgegeben wurde. Zuweilen war die Wirkung eines vorgelesenen Spahnes der Art, daß der Tunnel sich der Kritik enthielt und sein Wohlgefallen nur durch ein allgemeines Geräusch mit den Füßen zu erkennen gab, welches „Acclamation“ genannt wurde und die höchste Anerkennung ausdrückte, die der Tunnel zollte.

So war es früher Brauch, und so ist es bis heute geblieben. Viele von Denen, welche das schöne Fest des fünfundzwanzigjährigen Bestehens im Kreise ihrer Genossen fröhlich feierten, sind seitdem hinübergegangen; Andere wurden durch die Lebensverhältnisse später in andere Bahnen gezogen und tauchten nur hin und wieder bei besonderen Gelegenheiten im Tunnel auf. Aber Einige sind doch auch regelmäßige Besucher des Tunnels geblieben und die Führer einer jüngeren Generation geworden, die unterdessen nachgewachsen ist. Es würde verfrüht sein, auch aus der Reihe der jüngeren Talente hier einzelne Namen hervorzuheben

  1. Friedrich von Gaudy war der Stiefbruder des Dichters Franz von Gaudy; er fiel als Oberstlieutenant im Kaiser-Franz-Garde-Grenadier-Regiment im Gefecht bei Alt-Rognitz den 28. Juni 1866.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 830. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_830.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)