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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)

Orthodoxie jedoch hält fester als je zuvor an der Dogmenherrschaft, und so sind scharfe Conflicte unausbleiblich. Der jüngste Fall dieser Art, der Hoßbach’sche, hat jetzt ein Nachspiel gefunden, welches jedem, der Respect vor charakterfester Ueberzeugungstreue, vor männlich tüchtigem Wesen hat, innige Freude bereiten muß und von dem im Interesse der Volksbildung nur zu wünschen wäre, daß es das erste Glied in einer großen Kette sein möchte. Wir haben hier den „Fall Kalthoff“ und den Helden dieser Affaire im Auge.

Mit dem Ausgangspunkt der ganzen Angelegenheit verhält es sich bekanntlich so: Als der Prediger Hoßbach in der Jacobi-Gemeinde zu Berlin es wagte, seine freie Stellung zu den Glaubensartikeln klar zu bezeichnen und das Wunder zu leugnen, versagte das Consistorium ihm im Angesichte der Wissenschaft und Forschung des neunzehnten Jahrhunderts die Bestätigung seiner Wahl. Der charaktervolle Theologe mußte sich hinterher von Professor Treitschke belehren lassen, er habe weder klug noch tactvoll gehandelt. Erst im Amte, meinte der Herr Professor, hätte Hoßbach seiner Ueberzeugung Ausdruck geben dürfen, erst nach der Wahlbestätigung hätte er, mit kluger Umgehung kirchlicher Vorschriften, seine wahren Ansichten verbreiten dürfen. Und so sprechen auch Andere, sogar auch liberale Zeitungen. Seltsame Verirrung eines nüchternen Zeitalters! Als ob jemals in einer Sache religiöser Ueberzeugung, die niemals etwas Anderes sein kann, als ein Ausfluß tiefster Herzensbegeisterung für die höchsten und heiligsten Güter, als ob jemals in derartigen Fragen des Gewissens durch die zaghafte Rücksicht auf eine sogenannte „Opportunität“, durch ängstliches Diplomatisiren und kleinliches Rechnen mit den Machtverhältnissen und den Stimmungen mächtiger Personen ein würdiges Ziel erreicht worden wäre!

Und fast hatte es den Anschein, als beobachtete die Mehrzahl der liberalen protestantischen Theologen dem Oberkirchenrathe gegenüber die Taktik zuwartenden Schweigens, denn als diese Behörde einen Prediger von einem Amte ausschloß, welcher ihre Kirchenlehre als absolute Grenze für das Gewissen nicht respectiren zu dürfen glaubte, erhoben sich seine Genossen im Ganzen und Großen nicht, um ihr heiliges Ueberzeugungsrecht zu wahren. Einer nur that es, und das war der Pfarrer zu Nickern, Dr. A. Kalthoff. Dieser Mann aber that es mit der vollen Entschiedenheit und dem Wahrheitsmuthe eines Luther, der da sagte: „Hier stehe ich – ich kann nicht anders.“ Dr. Kalthoff schwankte nach dem Hoßbach’schen Falle keinen Augenblick in Bezug auf das, was er zu thun hatte. Ohne Rücksicht auf Amt und Stellung sagte er sich: Gewährt uns die evangelische Kirche für das edelste Streben des Menschen, für das Suchen nach immer vollendeterer Erkenntniß in der That keinen Raum, so kann ich dieser Gemeinschaft nicht mehr angehören. Mit ruhiger Entschlossenheit trat der Pfarrer von Nickern gegen die Entscheidung des evangelischen Oberkirchenraths in der Hoßbach’schen Sache auf und erklärte: „Ich lehre in meiner Gemeinde nicht das Wunder und die Gottheit Christi; ich beanspruche für meine Person das protestantische Recht, jeder Zeit mein geistiges Selbst, meine Ueberzeugung bekennen zu dürfen!“

Damit hat der tapfere Mann dem Oberkirchenrathe die glühende Kohle in die Hand gedrückt, und letzterer suspendirte ihn sofort vom Amte.

Es ist eine fast befremdende und doch auch wieder leicht erklärliche Erscheinung, daß der Theologe, welcher dem Kirchenregimente Trotz zu bieten wagt, aus einer Gegend und einer Zeit stammt, wo der Pietismus die üppigsten Blüthen trieb. Unser Kalthoff ist im Wupperthale und zwar in der frommen Stadt Barmen am 5. März des Jahres 1850 geboren. Die Knabenzeit des achtundzwanzigjährigen Predigers fällt also in jene Tage, wo Pastor Krummacher und andere Säulen der Orthodoxie alle Hebel in Bewegung setzten, um das Wupperthal den modernen Ideen zu verschließen und es ganz einzuhüllen in das Dunkel des Mysticismus. Kalthoff’s Vater, welcher im Jahre 1873 starb, gehörte selber der streng konservativen Richtung in der Politik wie in der Kirche an. Er war einer der Stifter des Treubundes in Barmen, erwarb sich aber durch seinen unbestechlichen Wahrheitssinn und seine Ueberzeugungstreue die Achtung auch seiner kirchlichen und politischen Gegner. Der alte Kalthoff war Färbereibesitzer. Als Familienvater zeigte er sich ebenso liebevoll wie verständig; die Erziehung seiner sechs Kinder war bei tiefer Religiosität, die sich freilich zum Theile in den hergebrachten Formen der Wupperthaler Frömmigkeit bewegte, doch eigentlich eine sehr freie, denn er that nicht das Mindeste, was die eigenartige Entwickelung seiner Kinder hätte hemmen oder verkümmern können, und er legte den allerhöchsten Werth auf eine gute Schulbildung. Der fromme Herr liebte es, fröhliche Gesichter um sich zu sehen, und in opferfreudigster Weise legte er sich selber Entbehrungen auf, um den Kindern Vergnügungen zu bereiten. Die Mutter unseres Pfarrers, welche heute noch in Barmen lebt, sorgte für die allgemeine Bildung und weckte namentlich unter ihren Kindern die Liebe zur Musik.

Der Knabe sollte erst Kaufmann werden und besuchte zunächst die Realschule in Barmen; dann siedelte er auf Anrathen der Lehrer in’s Gymnasium über. Der Director dieser Anstalt, Dr. Thiele, feuerte seinen Schüler zu idealem Streben an, und der Einfluß dieses Mannes, verbunden mit der im Elternhause gepflegten Frömmigkeit, wurde entscheidend für den Entschluß des jungen Kalthoff, Theologie zu studiren.

Im Jahre 1869 ging er zum Besuche der Universität nach Berlin. Dort studirte er weniger unter den Auspicien der Professoren als auf eigene Faust. Dem unabhängigen Geiste des jungen Studenten mochte es von vornherein recht abgeschmackt erscheinen, daß man seine religiöse Ueberzeugung aus den Händen des Professors empfangen müsse. Er machte sich eifrig und eng vertraut mit den Werken unserer hervorragenden Denker; er studirte Kant, Hegel und Schelling so eifrig wie Fichte, Schopenhauer und Hartmann. Unter schweren Kämpfen vollzog sich bei ihm allmählich der Proceß, durch welchen die alten Formen orthodoxer Frömmigkeit zerstört und Raum geschaffen wurde für eine freiere, lichtvollere menschlichere Auffassung des Christenthums. Kalthoff ging durch eine lange Zeit des Zweifels hindurch und erkämpfte sich Schritt für Schritt die Ueberzeugung, für welche er heute eintritt und der er Alles zum Opfer zu bringen entschlossen ist.

In den Jahren 1873 und 1874 war Kalthoff Hauslehrer in der Familie des Grafen August von der Goltz aus Schönau in Westpreußen. Obgleich der Graf ganz anderen Anschauungen huldigte, als der Erzieher seiner Kinder, so half dem Letzteren doch die liebenswürdige, wahrhaft biedere Art dieses wackeren Edelmannes über manche Kluft hinweg, und der junge Theologe nahm viele freundliche und schöne Erinnerungen aus dem gräflichen Hause mit auf seinen Lebensweg. Seine theologischen Examina bestand Kalthoff in Berlin und promovirte gleichzeitig in der philosophischen Facultät zu Halle. Seine Dissertation: „Die Frage nach der metaphysischen Grundlage der Moral, mit besonderer Beziehung auf Schleiermacher untersucht“, giebt im Wesentlichen noch heute die Grundzüge seiner Weltanschauung an; er zeigt sich darin als ein Mann von hervorragender Denkkraft, der sich an Kant’schen Werken gebildet hat und in seinen Grundanschauungen weit entschlossener vorgeht, als Schleiermacher.

Im Jahre 1874 wurde Kalthoff als Hülfsprediger an die St. Marcuskirche nach Berlin gerufen, im Januar 1875 nahm der Präsident des Consistoriums, Hegel, an dem Barte unseres Helden Anstoß. Der Streit um Kalthoff’s Bart setzte in Berlin und in weiteren theologischen Kreisen alle Gemüther in Bewegung. Selbstverständlich hätte es den jungen Hülfsprediger nicht die geringste persönliche Ueberwindung gekostet, seinen Bart dem Rasirmesser zu opfern, allein er sagte sich: was hat das Consistorium, was hat die evangelische Kirche, was hat die Religion mit meinem Bart zu schaffen? Welchen vernünftigen Grund könnte Herr Hegel gegen diesen Bart in’s Gefecht führen? Das ideale Bild Jesu, wie es sich die Phantasie der Christen gebildet hat, zeigt einen Vollbart, warum sollen die Jünger des erhabenen Meisters mit glattrasirtem Kinn predigen? Das Consistorium wußte nicht den geringsten stichhaltigen Grund für die Abschaffung des Bartes anzugeben, und der Hülfsprediger in der St. Marcuskirche ging ungeschoren aus diesem Conflict mit dem Kirchenregiment hervor.

Im Herbste desselben Jahres wurde Dr. Kalthoff von dem Patronat in Nickern, einem kleinen Orte in der südöstlichen Ecke der Provinz Brandenburg, zur Verwaltung des dortigen Pfarramts berufen. Der Conflict mit dem Consistorium hatte seine finsteren Schatten vorausgeworfen, und kaum war der neue Pfarrer

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_312.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)