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Verschiedene: Die Gartenlaube (1878)


Wenn im vorigen Jahre die Pflegelust der „Lies“ sich auf junge Enten warf, so konnte man dies dem Umstande zuschreiben, das sie kurz vorher, ehe sie die eben ausgekrochenen Entchen in dem verhüllten Korbe entdeckte, Junge geworfen hatte, die ihr sofort genommen worden waren. Daß sie in den Enten ihre Jungen wiedergefunden zu haben glaubte, ist wenigstens daraus zu schließen, daß die Schnäbel ihrer Pfleglinge nicht nach ihrem Geschmacke waren und sie dieselben durch Ziehen zu beseitigen suchte; weil aber die Thierchen dabei vor Schmerz schrieen, so ließ sie den Schaden bestehen und gewöhnte sich an ihre geschnäbelte Schaar.

Diesmal befand sich die „Lies“ im letzten Stadium der Trächtigkeit, als sie sechs eben ausgekrochene „Glickele“ (der nordfränkische Ausdruck für junge Hühner, so lange sie noch der Henne nachlaufen) in den für sie bestimmten Korb zusammentrug. Sie hatte ihre Noth, das unruhige Völkchen bei sich zu behalten, besonders als sie drei Tage später die Gesellschaft selbst durch vier Kätzchen vermehrte. Man hätte nun erwarten können, daß sie ihren Jungen alle Aufmerksamkeit allein widmen und die ungeberdigen Hühnchen vernachlässigen würde, aber fast das Gegentheil fand statt. Sie wurde nicht müde, die flüchtigen „Glickele“ immer wieder, sie vorsichtig an den Hälsen fassend, in’s Nest zu tragen, ja, sie begnügte sich nicht einmal mit dieser Belästigung, denn als ein paar Tage später von einer Henne drei Enteneier ausgebrütet worden waren, trug sie auch diese geduldigeren Jungen in ihren Korb. Endlich holte sie sogar aus einem Rothschwänzchenneste (im Baumgarten hinter der Mühle) noch ein Junges, und so war denn eine so bunte Gesellschaft in dem Korbe beisammen, wie die „Lies“ sie sich nur wünschen konnte. Ihre Liebesbezeigungen aber vertheilte sie unter alle ihre Pfleglinge in gleichem Maße; sie beleckte Hühner, Enten und Rothschwänzchen mit derselben Zärtlichkeit, wie ihre Kätzchen, obwohl sie namentlich von den Hühnern manche Unbill zu ertragen hatte. Diesen wuchs mit den Federn auch die Frechheit, sie pickten der „Lies“ oft so unverschämt auf die Nase und nach den Augen, daß diese stets erschrocken zurückfuhr. Dennoch that dies ihrer Liebe zu dem Jungvolk keinen Eintrag.

In der zweiten Woche dieses Zusammenlebens wurde die ganze Gesellschaft aus der Küche in den Garten hinterm Hause ausquartiert; sie hatte sich um zwei Personen vermindert. Das Rothschwänzchen war von der unermüdlichen „Lies“ in zwei Tagen zweimal in’s Nest gebracht worden; dann blieb es weg. Ein Entchen war erdrückt oder ertreten worden und lag todt neben dem Korbe. Die „Lies“ blickte es mit wahrhaft jammervollen Augen an und wandte und schob es mit den Pfoten hin und her, wahrscheinlich in der Erwartung, daß es wieder munter und lebendig werde. Die Hausherrin ließ es zwei Tage in der Küche liegen, um zu sehen, ob die Katze es fressen würde. Aber das geschah nicht.

Im Garten fand die Familie der „Lies“ in einem Verschlag Platz, einem tieferen Behälter, in welchem die jungen Katzen und Enten sich behaglicher Ruhe erfreuten, während die Hühner zwischen den Sparren durchschlüpfen konnten und sobald wie möglich wieder davonliefen. Jetzt zeigte die Alte, mit welcher Ueberlegung sie zu handeln vermag; sie fing die Hühnchen alle wieder ein, trug sie aber in die Küche zurück, wo das Entfliehen derselben nicht so leicht gewesen war, als sie aber hier von der Hausherrin deshalb ausgezankt wurde, schleppte sie die ganze unruhige Gesellschaft in’s Wohnhaus und versteckte sie unter die Treppe, und als man, um ihr auch dies zu wehren, die hintere Hausthür verschloß, trug sie ihre Lieblinge um Hof und Garten herum zur vorderen Hausthür hinein und brachte einige derselben bis zwei Treppen hoch in Sicherheit.

Diese mühevolle Bemutterung hatte erst ein Ende, als die Hühnchen zu groß zum Tragen waren; von dem unablässigen Herumschleppen waren sie ohnedies an den Hälsen ganz nackt geworden. Eines derselben wollte seinen Milchbrüdern, den Enten, in’s Wasser folgen und ertrank. Die Milchbrüderschaft der Enten, Hühner und Katzen ist übrigens wörtlich zu nehmen und hat sich noch lange erhalten. Wenn bisher am Morgen und Abend die große Milchschüssel für die Katze und ihre Jungen gebracht wurde, nahmen auch Enten und Hühner im Gefühl der Vollberechtigung wie am elterlichen Familientisch an der Mahlzeit Theil. Dies war auch später noch der Fall. Obwohl den Tag über Katzen, Enten und Hühner jedes nach seiner Weise lebten und Nachts getrennt waren, hielten sie doch immer noch geschwisterlich zusammen und eilten, sobald die Dienstmagd mit der Milchschüssel in der Hand „Miez, Miez!“ rief, von allen Seiten herbei. Gerade die Hühner waren jeden Morgen die Eiligsten, um in’s Haus zu ihrer alten Katze zu kommen, und wie oft hatte die „Lies“ ganz verdutzt aufgeschaut, wenn die Hühnchen statt zu miauen, ihr Kickerie! schrieen, und die Enten ihr Quäkquäk! Wenn die „Lies“ satt war und davon ging, ist’s sogar geschehen, daß auch Mäuse herbeischlichen und sich’s zwischen den Enten und Hühnern ganz friedlich wohl sein ließen. Der Dachshund Waldmann spielte abermals dieselbe Rolle wie bei der „Katze als Entenmutter“. Er, der zu anderen Zeiten mit seiner „Lies“ aus einem Napfe fraß, durfte der Milchschüssel sich nur bis auf gewisse Entfernung nahen und zusehen; die Schlappzunge mit in dies Labsal zu stecken, war ihm, trotz aller alter Freundschaft, nicht gestattet worden.

H.



Volksthümliche Schriften. Ueber den vergiftenden Einfluß der schlechten Colportage-Romane, die fort und fort von gewissenlosen Literatur-Speculanten mit ebenso eifriger wie unverschämter Hartnäckigkeit fabricirt und verbreitet werden, ist in der letzten Zeit wiederum viel geklagt worden. Nachgerade weiß man auch, daß dieser in der That äußerst scandalöse Vertrieb nicht blos auf die Lesegier eines schon rettungslos entarteten und verwilderten Geschmackes berechnet ist, sondern fast mehr noch auf den schwankenden Geschmack und die schwache Urtheilskraft jener Unwissenden und Rathlosen, denen Besseres genehmer wäre, wenn es ihnen nur ebenso bequem und wohlfeil geboten würde. Faßt man das Uebel von diesem Gesichtspunkte auf, so wird man jedem Unternehmen eine freudige Beachtung widmen müssen, das auf dem betreffenden Gebiete eine Besserung anbahnen möchte. Solch ein Unternehmen ist seit September dieses Jahres von der jungen Verlagsfirma E. Kempe in Leipzig unter dem Titel „Erzählungen des deutschen Hausfreundes“ begründet und eröffnet worden. Herr Kempe will sich dabei in die Reihe der Bestrebungen stellen, welche der Literatur der Trivialität und des Schmutzes, wie den socialistischen Brand- und Hetzschriften gegenüber eine Hebung des Vorschriftenwesens in sittlich-patriotischem Geiste herbeiführen und durch Gutes das Verwerfliche hinwegdrängen wollen. Es möge deshalb der verständige und warm geschriebene, durch alle Buchhandlungen jedenfalls gratis zu beziehende Prospect, in welchem der genannte Verleger seine Absicht ausführlich darlegt, hiermit der Beachtung aller Volksfreunde empfohlen sein.

Ueber das Thema selbst lassen sich freilich ganze Capitel schreiben, und wir unsererseits bestreiten unter Anderem von vornherein, daß der bezeichnete Zweck allein durch das novellistische Genre erreicht werden kann, ja wir behaupten, daß dieses Mittel, wenn es einseitig und ausschließlich angewendet werden sollte, eine geisterschlaffende und deshalb geradezu verderbliche Wirkung üben muß. Nur als eine Beisteuer zu anderweitigem tiefer greifendem Wirken – wie es z. B. rüstig und tüchtig in den vielfach vortrefflichen Leistungen des Nordwestdeutschen Volksschriftenvereins in Bremen sich kund giebt - würden wir daher die nette Kempe’sche Unternehmung gelten lassen, falls ihr Fortgang den angeregten Erwartungen entspräche. Von diesen „Erzählungen des deutschen Hausfreundes“, die neben Altbewährtem auch neu für den Zweck Geschaffenes bringen werden, soll in jedem Monat ein Bändchen mit abgeschlossenem Inhalte zum Preise von dreißig Pfennigen abgegeben werden. Drei solcher Bändchen sind bereits erschienen, von denen das erste Hebel’s unvergleichliches „Schatzkästlein“, das zweite Zschokke’s „Meister Jordan“ und das dritte „Stumme Liebe“ von Musäus und Schiller’s „Verbrecher aus verlorner Ehre“ enthält. Ueber das Angemessene der Auswahl wird sich erst beim Vorliegen einer ganzen Reihe ein sicheres Urtheil fällen lassen. Das Aeußere der kleinen Bücher zeigt nicht die schimmernde Eleganz heutiger Ausstattungen. Möge man sich aber durch ihr einfaches und solides Gewand nicht abhalten lassen, sie als Festgeschenke für Alt und Jung aus dem Volke zu verwenden!

Fr.



Novellen von Hieronymus Lorm. Die realistische Richtung unserer Zeit drängt auch in der Romanliteratur auf realen Inhalt: ist dieser vorhanden, so läßt sich das lesende Publicum sogar das Fehlen einer „Tendenz“, die mit der Zeit gleichfalls ein Erforderniß des modernen Lesers geworden ist, gefallen. Der gewaltige Erfolg, den Freytag’s „Ahnen“, Scheffel’s „Ekkehard“, und Ebers[WS 1] ägyptische Romane errungen, beweist zur Genüge, daß unser heutiges Publicum eine reiche Empfänglichkeit besitzt für materiell-gewaltige, poetisch-großartige Gestaltungen.

Aber auch jener schöne uralte deutsche Gemüthsdrang, der sich mit einem Erzähler so verständnißreich und liebevoll einspinnt, ist im Wesentlichen nicht ganz verloren gegangen. Um aber auf diesen nationalen Charakterzug mit Erfolg zu wirken, kommt es neben einer heute freilich selten gewordenen geistigen Begabung dafür nur noch darauf an, der Form einige Concessionen zu machen. Diese bestehen hauptsächlich in der Anwendung des Modernen und Pikanten bei strenger Vermeidung des mit diesen Begriffen so leicht sich verbindenden Flachen und Vergänglichen.

Der fast einzige Vertreter dieser letzteren Richtung unserer heutigen Roman- und Novellenliteratur ist Hieronymus Lorm, dessen ergreifende Lebensschicksale die „Gartenlaube“ (Nr. 35 des Jahrgangs 1877) schon erzählt hat. Den diesjährigen Bücher-Weihnachtstisch werden zwei Novellen-Sammlungen Lorm’s, „Am Kamin“ und „Intimes Leben“ (Hamburg, J. F. Richter) schmücken und damit ihr zweites Geburtsfest feierlich begehen, nachdem sie vor schier zwanzig Jahren zum ersten Male das Licht der Welt erblickt hatten.

Schon bei ihrem ersten Erscheinen hat man diesen Erzählungen Lorm’s nachgerühmt; daß sie Tiefe mit Klarheit vereinigen und einem See gleichen, der bis auf den Grund schauen läßt und Gestein und Pflanzen, die niemals auf der Oberfläche vorkommen, so nahe legt, als ob sie nur zu greifen wären. Trotz des gänzlichen Fehlens alles Zweideutigen stehen jene Erzählungen doch inmitten des modernen Gesellschaftslebens, mit psychologischer Feinheit all den Gängen und Irrgängen des modernen Strebens, Fühlens und Denkens nachschreitend. Diese Eigenschaften machen Lorm’s Novellen und Romane zu einem Familienbuche in des Wortes edelster Bedeutung. Zwanzig Jahre freilich haben jene Bücher gebraucht, um es zu einer zweiten Auflage zu bringen, und das gereicht dem gebildeten deutschen Publicum wahrlich nicht zur Ehre.



Noch einmal „An der Schwelle des Winters“. Die Nr. 45 der „Gartenlaube“ bringt unter „Blätter und Blüthen“ eine nur zu sehr berechtigte Mahnung, welcher wir noch Einiges hinzufügen möchten. Der Verfasser des Mahnrufs „An der Schwelle des Winters“ erinnert daran, daß gerade unter der ärmeren Bevölkerung von Stadt und Land die Unsitte verbreitet ist, den Hals zur Unzeit mit dicken Shawls und Tüchern zu umhüllen. Weit entfernt davon, mit einzustimmen in den Chor derer, welche die Schule für alle kleine und große Gebrechen der Menschheit verantwortlich machen, können wir nach Lage der Verhältnisse doch nicht umhin, der Schule einen nicht geringen Theil der Schuld an der Verweichlichung des Volkes in dieser Beziehung beizumessen. Das Sprüchwort: „Jung gewohnt, alt gethan,“ findet hier seine volle Anwendung. Das, was die Eltern aus Unwissenheit oder aus falscher Liebe zu ihren Kindern zu verderben drohen, muß die Schule mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln bestrebt sein, zum Guten zu wenden.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Eber’s
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1878). Leipzig: Ernst Keil, 1878, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1878)_819.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)