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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880)


bezeugte sich auch alsbald, als er sich, durch Thalberg’s Erscheinen in Paris veranlaßt, in einen Wettkampf mit ihm einließ, der mit seinem Siege endete. „Thalberg ist der Erste, Liszt aber der Einzige“, lautete die Entscheidung der Gesellschaft, der sich die Kritik ohne Zögern anschloß. Und der Einzige ist er geblieben bis auf den heutigen Tag.

Vor seinem Wettstreite mit Thalberg hatte Liszt längere Zeit zurückgezogen in Genf gelebt, wozu seine freundschaftliche Verbindung mit der unter dem Schriftstellernamen Daniel Stern bekannten Gräfin d’Agoult – der Mutter von Richard Wagner’s Gattin – die Veranlassung gab. Dann verweilte er zwei volle Jahre (1837 bis 1839) concertirend und studirend in Italien. Glanzvolle Erfolge in Wien stellten hierauf auch in Deutschland seinen Künstlerruf fest und leiteten die Virtuosenreisen ein, die ihn nun vom Norden bis zum Süden, vom Osten bis zum Westen Europas, durch alle Lande und alle musikpflegenden Städte führten. Aller Orten begeistert gefeiert, erlebte er zumal in Ungarn und Deutschland die größten Huldigungen. Fürsten schmückten ihn mit Titeln und Orden; der österreichische Kaiser stellte seinen Adel wieder her, wie er ihn später zum kaiserlichen Rath mit einem Ehrensold und zum Präsidenten der Pester Musikakademie ernannte; Städte erhoben ihn zu ihrem Ehrenbürger; Pest überreichte dem Meister den Ehrensäbel, und die Universität Königsberg verlieh ihm den Doctortitel. Ein Begeisterungsrausch folgte allenthalben seinen Spuren. Da – die Welt sah es staunend – hielt er plötzlich ein in seinem Siegeslaufe und schloß, auf der Sonnenhöhe seines Ruhmes stehend, seine Laufbahn als Virtuos, um sie mit dem dornenvolleren Berufe des Componisten zu vertauschen.

Siegesmüde, sich nach einem Heim, einem concentrirteren Wirkungskreise sehnend, der ihm die nöthige Muße zum Schaffen bot, ließ er sich in dem kleinen Weimar fesseln und nahm dort, einem Rufe des Großherzogs als Hofcapellmeister folgend, im November 1847 bleibend seinen Wohnsitz. Auf der „Altenburg“ ließ er sich in Verbindung mit der ihm aus Rußland gefolgten Fürstin Caroline Sayn-Wittgenstein, einer Frau von hoher geistiger Bedeutung, nieder und versammelte mit ihr bald einen Kreis vornehmer Geister um sich. Eine neue Kunstblüthe rief er hier auf dem alten classischen Boden hervor und entfaltete eine Wirksamkeit, die für das gesammte Musikleben der Gegenwart von weittragender Bedeutung wurde. Wie sein Erscheinen als Virtuos ein epochemachendes gewesen, so war es auch sein Auftreten als Dirigent, als Lehrer und als Componist. Dort wie hier, in allen Richtungen seiner Thätigkeit, war es ein kühner, kraftbewußter Geist des Fortschritts, der aus seinen künstlerischen Leistungen sprach und der Kunst neue Bahnen eröffnete. Neben der Pflege classischer Werke ließ er sich vor Allem die Förderung der aufstrebenden musikalischen Generation angelegen sein. Unberechenbare Verdienste erwarb er sich um Wagner, dessen Opern er, während Niemand des in der Verbannung lebenden Meisters und seiner Kunst gedachte, auf der Weimarer Bühne eine Heimath gründete; er brach ihnen so durch sein energisches Vorgehen Bahn. Keine neue musikalische Erscheinung irgend welcher Bedeutung blieb von ihm unberücksichtigt, und die allsonntäglich in seinem Hause veranstalteten Matinéen übten bis in die weite Ferne ihre Anziehungskraft.

War es sein Grundsatz als Dirigent, daß „die Aufgabe eines Capellmeisters darin bestehe, sich thunlichst überflüssig zu machen und mit seiner Function möglichst zu verschwinden“, so ließ er auch in seiner Thätigkeit als Lehrer der Individualität die größte Freiheit in der Entwickelung. Da war und ist von keiner Schablone die Rede; die volle Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit blieb jedem Einzelnen gewahrt, dem er die unschätzbaren Reichthümer seiner Erfahrung in der Technik seiner Kunst erschloß. Läßt sich der individuelle seelische Zauber seines Spiels auch auf keinen Anderen übertragen, seine Schule geht, längst in alle Welttheile verbreitet, nicht mehr verloren. Aus ihr gingen die berühmtesten Namen der jüngeren Pianisten, an ihrer Spitze Rubinstein, Hans von Bülow, von Bronsart, Tausig, Sophie Menter, Anna Mehlig, Ingeborg von Bronsart, Laura Rappoldi, hervor, denen sich ein weiterer Kreis von Capellmitgliedern und Musikern, wie Joachim, Laub, Singer, Coßmann, Cornelius, Lassen, anschloß.

Schon während seines Wander- und Virtuosenlebens hatte Liszt eine ansehnliche Reihe von Werken geschaffen, die, für das Clavier geschrieben, zunächst seiner Virtuosität dienen sollten; gleichzeitig mit der neuen, im Vergleich zu dem bisher Vorhandenen unerhört vervollkommneten Technik, die sie begründeten, brachten sie meist ein poetisches Element zum Ausdruck. So seine Studien und Transscriptionen (namentlich Schubert’scher Lieder), seine Paraphrasen, Phantasien und Polonaisen, seine „ungarischen Rhapsodien, die „Consolations“, „Années de pélerinage“, „Harmonies poétiques et religieuses“, die Clavierpartituren und Bearbeitungen der Beethoven’schen Symphonien und der phantastischen Symphonie von Berlioz, wie Wagner’scher, Rossini’scher, Weber’scher, Schubert’scher, Bach’scher und anderer Werke, in denen er Unnachahmliches leistete.

Größere, umfänglichere musikalische Thaten reiften nun während seines Weimarer Aufenthaltes. Als Beherrscher großer orchestraler Formen trat Liszt jetzt hervor und überraschte die musikalische Welt mit seinen zwölf „Symphonischen Dichtungen“. Völlig neue Erscheinungen ihrer Art, waren sie der Idee wie der Form nach seine eigensten Geschöpfe. Irgend einen poetischen Gegenstand, eine Dichtung, einen dichterischen Charakter oder Vorgang nimmt er zum Grundgedanken und bringt ihn, indem er ihm seine musikalische Seiten abgewinnt, zu tonkünstlerischer Darstellung. Die äußere Gestalt wächst aus dem Inhalte heraus; sie ist so mannigfaltig, wie dieser Inhalt selbst und eher der Ouverture als der Symphonie verwandt. Der Sonatensatz, auf dem die Letztere beruht, erwies sich als nicht elastisch genug zur Aufnahme eines neuen poetischen, einen fortlaufenden Ideengang repräsentirenden Inhaltes, und so griff Liszt zur freien Variationenform, wie sie Beethoven im Vocalsatz seiner neunten Symphonie – dem Ausgangspunkte für Liszt’s gesammtes instrumentales Schaffen – anwandte. Aus einem oder zwei gegensätzlichen Themen – oder Leitmotiven, wenn man will – heraus entwickelt er eine ganze Folge verschiedenartigster Stimmungen, die durch rhythmische und harmonische Veränderungen in immer neuer Gestalt erscheinen, dem Gesetze des Wechsels, des Gegensatzes und der Steigerung entsprechend.

Das auf diesem Gesetz beruhende Princip des Sonatenbaus ist also trotz der thematischen Einheit und der eine freiere Periodengliederung aufweisenden einsätzigen Form auch hier wirksam, ja die Umrisse der herkömmlichen vier Sätze blicken, freilich zusammengedrängt, mehr oder minder kenntlich noch immer hervor. Bei seinen beiden umfangreichsten und großartigsten Instrumental-Dichtungen „Dante“ und „Faust“, die er als Symphonien bezeichnete, behielt Liszt auch die selbstständige Theilung der Sätze bei, aber er schaltet innerhalb derselben auf seine eigene Weise. In beiden, welche die tiefsinnigsten Dichterwerke, die wir besitzen, „Die göttliche Komödie“ und Goethe’s „Faust“, in Tönen verlebendigen, brachte er, wiederum nach dem Vorbild der neunten Symphonie, im Schlußsatz Chöre in Anwendung. Den einzelnen Sätzen fügte er erläuternde Titel (z. B. Faust, Gretchen, Mephistopheles) bei, wie er auch seinen symphonischen Dichtungen, um Genuß und Verständniß derselben zu erleichtern und uns über den Gedankengang, den er beim Schaffen im Wesentlichen verfolgte, aufzuklären, Programme beifügte. Er giebt uns in denselben entweder selbstständige kleine Dichtungen, wie die Verse Victor Hugo’s und Lamartine’s zur „Bergsymphonie“, zu „Mazeppa“ und den „Préludes“, oder den Hinweis auf bekannte größere Dichterwerke, wie im „Tasso“ und „Prometheus“, oder er führt uns im „Orpheus“ eine vertrauliche mythische Gestalt entgegen und läßt uns in der „Heldenklage“ das große historische Ereigniß ahnen, das er darin feierte. Die „Festklänge“ und „Hungaria“, sowie „Hamlet“, die „Hunnenschlacht“ (nach Kaulbach) und „Die Ideale“ (nach Schiller) hat er ohne Programm gelassen, da er durch die Titel die ihn leitenden Ideen genugsam bezeichnet zu haben glaubte.

Eben diese ihre poetisch-musikalische Doppelnatur in Verbindung mit der Neuheit der Form, die doch lediglich das Resultat dieses Inhalts ist, war dem Verständniß der großen Orchesterschöpfungen Liszt’s besonders ungünstig und hat durch ihre ungewöhnlich hohen Anforderungen an das Publicum die Verbreitung derselben erschwert. An sie heftete sich trotz ihres instrumentalen Glanzes und der in ihnen zu Tage tretenden harmonischen und contrapunktischen Kunst die erbitterte Opposition, von der die seinem Virtuosenthum dienenden Claviercompositionen nichts erfahren hatten. Aber diese Opposition konnte nicht hindern, daß die von Liszt vertretene poetische Richtung in allen Gattungen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1880). Leipzig: Ernst Keil, 1880, Seite 553. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1880)_553.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)