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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881)

Nihilismus und russische Dichtung.
Studien von Wilhelm Goldbaum
3. Nicolaus Gogol.

Von dem Tode Alexander Puschkin’s bis zur Blüthe Nicolaus Gogol’s ist eine kurze Zeit. Aeußerlich hat sich während derselben nichts in Rußland verändert. Der herrschgewaltige Czar hat seinen Machtkreis erweitert; das Beamtenthum, dieser alte Vampyr, saugt mit gesteigerter Gier an dem Blute des russischen Volkes. Aber eine mächtige Wandlung ist dennoch vor sich gegangen; der Statistiker, der Politiker, der Ethnograph vermag sie nicht zu ermessen, der Poet aber, welcher ein Seelenkundiger ist, giebt ihr in seinen Dichtungen den entsprechenden Ausdruck. Puschkin hat das Elend seines Volkes nur gespürt bei dem Anblicke der zahlreichen gebrochenen und entwaffneten Existenzen, die ihm begegneten, bei der Betrachtung seines eigenen Lebens, dem die schönsten Ziele grausam entrückt worden waren. Gogol dagegen enthüllt die Ursachen dieses allgemeinen Elends; er zerrt unbarmherzig das Beamtenthum hervor, um es in seiner ganzen Verworfenheit dem Volke zu zeigen; er erfindet das fürchterliche Wort von den „todten Seelen“, mit welchem er das Wesen des russischen Staates und die Lage des russischen Volkes treffender bezeichnet, als es die redseligsten Betrachtungen zu Stande brächten.

Alexander Puschkin ist der Dulder, der fatalistisch sein Leid erträgt; Nicolaus Gogol ist der Angreifer, der den Urhebern seines Leids schonungslos den Krieg macht. Das Mißvergnügen ist es müde geworden, nur sich selbst zu beschauen; es sucht nach Opfern, um sich auf dieselben zu entladen – und es findet sie.

Merkwürdig ist es, mit welcher Schnelligkeit sich dieser Uebergang von der Defensive zur Offensive vollzogen hat, fast merkwürdiger noch, wie er sich in der Dichtung äußerst. Der Humorist mußte kommen, um den Geist der Zeit zu bezeugen, und zwar nicht der Humorist, dem das Vergnügen an der Satire aus dem Antlitz grinst, nicht ein Juvenal, sondern der Humorist, der zugleich weint und lacht, wie Dickens. Vielleicht niemals ist ein Russe patriotischer gewesen als Nicolaus Gogol. War Puschkin von echt nationaler Gesinnung erfüllt, so lebte in Gogol ein nationaler Fanatismus, und allen Ernstes hielt er Rußland für berufen, die ganze Welt zu beherrschen.

Auch darin liegt ein Zeichen der folgerichtigen Entwickelung, welche zum Nihilismus geführt hat: Puschkin hat die äußeren Einflüsse noch zu würdigen vermocht, und wenn er z. B. von den Deutschen sprach, so zeigte er immerhin einen gewissen Respect vor ihnen wie in dem Drama „Boris Godunow“, wo der falsche Demetrius von ihnen sagt:

„’s sind wackre Burschen, wahrlich wackre Burschen.
So hab ich’s gern. Ich will in kurzer Zeit
Aus ihnen eine Ehrentruppe bilden.“

Wo Gogol aber von den Deutschen redet, fliegt ihm ein Zug von Geringschätzung über das Antlitz; er schildert ein „auf deutsche Manier“ eingerichtetes Gasthaus mit cynischem Wohlgefallen an den Lappen und Fetzen, die er denselben als charakteristische Merkmale andichtet; heute, dreißig Jahre später, hat diese Abgunst gegen das Deutschthum sich in offenen Haß verwandelt und ist zu einem Programmpunkte des Nihilismus geworden. –

Will man nun Nicolaus Gogol nicht aus dem beschränkten Gesichtspunkte literar-historischer Kritik, sondern aus dem weiteren der nationalen Entwickelung beurtheilen, so darf man nicht davor zurückschrecken ihn als den Propheten des Nihilismus zu bezeichnen; denn er hat zu jener unerbittlichen Literatur der Selbstvernichtung den Anstoß gegeben, welche in der Folge darauf verzichtete, an dem eigenen Volke auch nur die leiseste Schonung zu üben, welche vielmehr mit unerhörter Grausamkeit die wunden Punkte des russischen Staats- und Nationalwesens bloßlegte. Eine beneidenswerthe Mission ist das nicht; wem sie auf die Schulter gelegt ist, der habe Acht darauf, daß er selbst nicht tragisch ende! Und Gogol hat tragisch geendet, tragischer als Puschkin, Lermontow, Kolzow. Der die „todten Seelen“ der Welt gezeigt hatte, ward am Ende selbst zur „todten Seele“.

Er war aus Kleinrußland nach Petersburg gekommen, aus jenem südlichen Striche, wo es wie schwermüthige Poesie über der weiten Steppe liegt. Einen „Chachol“ nennt der Großrusse seinen kleinrussischen Mitbürger von den Ufern der Wolga, der Kama, der Oka und des unteren Dniepr, und ein „Chachol“ - das Wort bedeutet einen Tannenzapfen - ist nicht viel mehr als ein Narr. Der großrussische Moskal schaut auf den kleinrussischen „Chachol“ fast mit Verachtung herab. Zwei Chachols, erzählt er, gingen einst im Mondenschein spazieren.

„Was ist das?“ fragte der eine, auf den Mond zeigend.

„Ich weiß nicht,“ erwiderte der andere, „ich bin nicht von hier.“

Für solchen Spott rächt sich seinerseits der „Chachol“. Wie bei den Römern Hannibal ungezogenen Kindern von ihren Müttern als Schreckbild vorgehalten wurde, so drohen kleinrussische Mütter ihren Kindern mit dem Rufe: „Der Moskal kommt“

Eine Empfehlung war also der kleinrussische Geburtsschein für Gogol nicht. Und es erging ihm anfangs auch recht traurig in Petersburg. Er bewarb sich um eine Schreiberstelle in einem Ministerium – man bedeutete ihm, daß er nicht russisch schreiben könne. Er versuchte sich als Schauspieler – man lachte ihn aus. Er zog in die Fremde – die Wegzehrung war bereits in Hamburg zu Ende, und unter Noth und Kümmerniß mußte er sich in die Heimath zurückschlagen. Da griff er zur Feder und schrieb. Und Gogol erschrieb sich Ruhm, Stellung und Ansehen mit seinen „Abenden auf dem Meierhof von Dikanka“, welche ihm wie Gedichte aus der Seele geströmt waren; er ergötzte sich selbst beim Schreiben an dem Klange und las die Sätze laut vor sich hin. Die Ehrenrettung des „Chachol“ war also auf das Glänzendste vollbracht; denn wer diese Novellen, wer die wunderbare Geschichte von „Taras Bulba, dem Kosakenhetman“ kennen lernte, dem mußte es wohl gewagt erscheinen, den „Chachol“ noch ferner für einen Narren zu halten.

Jedoch mit etlichen Novellen, wären dieselben auch noch so trefflich, kann das Schaffensbedürfniß eines Nicolaus Gogol sich nicht bescheiden. Dem Trieb und der Lust des Erzählens vermögen auch andere Poeten genug zu thun, denen künstlerische Vollendung als das höchste Ziel vorschwebt, aber dieser Kleinrusse sollte mehr vollbringen: er sollte eine weltgeschichtliche Sendung erfüllen unter seinem Volke. Hatte Puschkin nur gesagt, was Rußland zu leiden habe, so sollte Gogol sagen, woran es leide.

Und das ist der ungeheure Fortschritt der Entwickelung, daß die Selbsterkennsniß , welche in Puschkin’s „Eugen Onägin“ noch das Gut einzelner Individuen war, durch Gogol zu einem russischen Gemeingute wurde.

Gogol ist, wie alle Humoristen, sich selbst der Quellen nicht bewußt, aus derer seine hinreißende Beredsamkeit, seine fast unglaubliche Anschauungskraft stammt; denn diese Quellen verlieren sich in jenen dunklen, geheimnißvollen Schacht, den man die Volksseele nennt; doch gleichviel – nicht darauf kommt es an, daß das Instrument wisse, wozu es von der Hand, der es gehört, verwendet wird. Gogol ist in Wahrheit der Schicksalspoet Rußlands; er hält fürchterliches Gericht über Alles, was faul, ungesund, verderblich in seinem unglücklichen Vaterlande ist. Seine Kunst ist nicht graziös, seine Sprache nicht fein oder sorgsam berechnet – wozu auch? Die Hauptsache war ihm, daß dem russischen Volke seine Peiniger mit Fingern gezeigt werden, unerbittlich in all ihrer schamlosen Blöße, mit der herzlosen Gier in den Augen, der fürchtlichen Leere im Herzen und Kopf und in der ganzen Niederträchtigkeit ihres sclavischen Gehorsams. Nicolaus Gogol entwarf ein Bild dieser Verkommenheit in dem Lustspiel „Der Revisor“, in dem Roman „Todte Seelen“.

Ach, es ist ein verhängnisvolles Amt, Ankläger zu sein, dessen sich die Weltgeschichte bedient; wer dieses Amtes waltet, ohne es zu wissen, wandelt an dem Rande eines ihm verborgenen Abgrundes, wer sich aber des Ungeheuren bewußt wird, das ihm aufgetragen, mag leicht davon wahnwitzig werden oder sterben wie der Reiter vom Bodensee. Der arme unwissende Gogol, kein Philosoph, kein Historiker, sondern Poet, nichts als Poet, ist auch darüber wahnwitzig geworden und daran gestorben. Er sagte seinen Landsleuten die blutige Wahrheit, sie aber glotzten ihn blöde an und verstanden ihn nicht; er schnitt und riß und zerrte an den Leibe seines Volkes, der ja schließlich sein eigener Leib war, und je tiefer sein Messer schnitt, desto mehr schnitt es in Gift und Fäulniß. Nach

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1881). Leipzig: Ernst Keil, 1881, Seite 559. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1881)_559.jpg&oldid=- (Version vom 7.9.2022)