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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

und Sentimentalität schwebenden Naturells ein Liebling des Publicums war.

Die Frage nach dem Berufe Adolf Wilbrandt’s für eine leitende Theaterstellung ist also mit Zuversicht zu bejahen. Wohlwollen und Verständniß für die dramatische Production, Einsicht in das Bedürfniß des Publicums, Kenntniß dessen, was zu einer guten Regie erforderlich ist, sind vorhanden; die Energie und Ausdauer werden sich mit dem Amte einfinden. Jede Individualität hält die Zügel anders. Heinrich Laube entwickelte eine an den Starrsinn grenzende Beharrlichkeit nach oben wie nach unten hin; er hat durch dieselbe das Burgtheater rechtzeitig vor dem Niedergange bewahrt; Franz Dingelstedt liebte die gewundenen Wege; er diplomatisirte gern und lenkte das Schiff, dessen Steuer er führte, glücklich zwischen mancherlei Klippen hindurch. Adolf Wilbrandt hat zweifellos ein sicheres Urtheil darüber, was er von Laube’s Directionsweise, was er von derjenigen Dingelstedt’s in sein Programm herübernehmen muß. Und er kann um so beruhigter an die Arbeit gehen, als Laube und Dingelstedt ihm ein Regie-Collegium von hervorragender Tüchtigkeit, ein Bühnenpersonal von gewaltiger Leistungskraft hinterlassen haben. Sonnenthal, Lewinsky, Baumeister, Hartmann, zugleich Zierden deutscher Schauspielkunst, sind die Regisseure des Burgtheaters; Charlotte Wolter und Zerline Gabillon, Meixner und Frau Hartmann bilden mit jenen den unvergleichlichen Stamm des Personals.

Jedoch das Theater hat nicht das ausschließliche Recht auf Adolf Wilbrandt; er gehört der deutschen Literatur an. Und wenn ihm vor einigen Jahren der Schiller- und Grillparzer-Preis zutheil ward, so bedeutete diese Auszeichnung nicht so sehr, daß das Theater, als daß die dramatische Muse sich seiner zu freuen habe. Freilich, von diesen Preisausschreibungen und deren Erfolgen, von der Weisheit der Dichtercollegien und der befruchtenden Kraft des Wettbewerbes denkt man heutzutage gering; das Publicum hat in den meisten Fällen den Spruch der Preisrichter nicht bestätigt. Schauffert’s „Schach dem König“, Wichert’s „Ein Schritt vom Wege“ haben vor dem Parterre so wenig Gnade gefunden, wie Lindner’s „Brutus und Collatinus“. Aber wenn Wilbrandt auch jenen Preis nicht empfangen hätte, so wäre er gleichwohl als dramatischer Dichter der bedeutendste unserer Zeit, in seinen Treffern nicht minder als in seinen Verirrungen. Und damit ist seine dichterische Bedeutung nicht einmal erschöpft; als der literarische Mann, als Romanschriftsteller und Novellist, zum kleinen Theile auch als Lyriker steht er eingeschrieben in der Geschichte des zeitgenössischen Schriftthums, an hervorragender, wenn auch nicht an erster Stelle.

Es ist überaus verlockend, dem Dichter Wilbrandt auf seinen Wegen nachzugehen. Wie das Talent nicht selten von der Bildung, die Lust am Schaffen von der Hast des Schaffens überflügelt, die Poesie der Nothwendigkeit untergeordnet wird, das ist an Wilbrandt’s Producten sehr lehrreich wahrzunehmen. Man könnte sich getrauen, an jeder seiner Novellen, an jedem seiner Bühnenstücke zu zeigen, wo das Talent geruht und die Bildung allein thätig gewesen, wo kein innerer Impuls, sondern ein äußerer Anstoß seine Wirkung geübt, wo die Nothwendigkeit, schnell zu Rande zu kommen, das freie Spiel der Kräfte grausam unterbunden. Daß der Dichter unter Anderem nach dem „Graf von Hammerstein“ und, wenn wir nicht irren, auch nach dem „Gracchus“ mit seiner notorisch aus der Schulzeit stammenden Uebungsarbeit „Giordano Bruno“ nicht zurückhielt, sondern sie zum Schaden seines Ansehens der Oeffentlichkeit preisgab, das hat viele seiner Freunde gar sehr geschmerzt. Man könnte auch darnach fragen, warum seine Sprache durchweg conventionell, mehr aus dem Wortschatze der sogenannten guten Gesellschaft als aus dem des Volkes entnommen ist. Jedoch nicht um eine akademische Untersuchung ist es uns hier zu thun, sondern lediglich um die Feststellung des wesentlichen, bestimmenden Zuges in der Dichterphysiognomie Wilbrandt’s.

Es hat selten einen Poeten gegeben, der das Publicum so rasch und nachhaltig sich gewann, aber die Kritik so wenig — und man kann sagen, von Jahr zu Jahr weniger — für sich zu erwärmen vermochte. Woran liegt das? An dem Doppelleben des Dichters selbst, an den „zwei Seelen in seiner Brust“. Es ist ein mystisches Etwas in ihm, eine Vorliebe für das Fremdartige, Undefinirbare, ja für das Kranke. Dem Publicum ist dieses Abschweifen in das Gebiet der pathologischen Processe interessant; der Kritiker muß es tadeln. Die Helden in Wilbrandt’s Novellen führen ein Doppelleben, eine Art von Eheverhältniß mit sich selbst, wie Fridolin, oder aber sie sind wie das Mädchen aus der Fremde von einer anderen Welt, „Gäste vom Abendstern“, welche in unsere Wirklichkeit nicht hineinpassen, zu dünn, zu ätherisch, um mit uns zusammen zu leben, anziehend durch ihre Fremdartigkeit, aber untauglich, unter uns zu existiren. Man vermöchte fast zu glauben, es sei sozusagen eine „vierte Dimension“, ein dunkles Zwischengebiet jenseits der Grenze unserer Wahrnehmungen, wo des Dichters Geist beim Schaffen mitunter weile oder wohin ihn zum mindesten ein geheimes Sehnen unwiderstehlich fortlocke.

Dieser Wandertrieb nach dem „Unbewußten“ hin zeigt sich vom ersten Augenblicke an; er ist für Wilbrandt als Erzähler, für Wilbrandt als Literar-Historiker, für Wilbrandt als Bühnendichter bezeichnend, wenn er auch, je nach Stoff und Tendenz, verschiedener Richtung zugewendet scheint.

Als Romanschriftsteller beginnt Wilbrandt mit der zweibändigen Erzählung „Geister und Menschen“; der Held ist Swedenborg, das Urbild aller Spiritisten und Hypnotisirer. Als Literar-Historiker fühlt er sich zu Heinrich von Kleist, zu Hölderlin hingezogen, zu Kleist, dessen Genie zweifellos in finstere Umnachtung untertauchte, obwohl erst an der letzten That der Irrsinn deutlich zu Tage kam, zu Hölderlin, dem unglückliche Liebe zeitig die Sinne verwirrte, wenn auch noch mitten im Wahnwitz der poetische Genius eine Weile siegreich den rechten Weg einhielt. Es sind pathologische Processe, bei denen die Katastrophen auf eine krankhaft erregte Phantasie zurückweisen, auf verhängnißvolle Einwirkungen durch mehr oder minder vom graden Pfade abgelenkte Frauen. Der Dramatiker Wilbrandt nimmt anfangs eine freundlichere Bahn, aber bald schlägt auch er sich in jenen dunklen Bezirk, wohin es vordem nur den Erzähler und Literar-Historiker Wilbrandt gezogen, in den Bezirk, wo gigantische Verirrung ihre Verheerungen anrichtet. Wenn man den „Graf von Hammerstein“ mit „Arria und Messalina“ vergleicht, so meint man, es mit zwei verschiedenen Dichtern zu thun zu haben; es ist aber der nämliche Dichter, nur daß er allmählich auch auf die Bretter jene mystische, grübelnde, pathologische Vorliebe für das Unheimliche verpflanzt hat, welcher er sonst blos auf seine Erzählungskunst und auf seine literar-historischen Studien einen bestimmenden Einfluß verstattete. Messalina ist wie Nero — ebenfalls ein Wilbrandt’scher Stoff — eine Figur aus der Krankheitsgeschichte der Menschheit; sie wirkt nicht in jenem Sinne zur Läuterung durch Mitleid und Furcht, wie es Aristoteles und nach ihm die Kunstlehre aller Zeiten gewollt; sie kann nur aufrührend, empörend, verwirrend wirken. Der äußere Erfolg mag demjenigen, der sie auf die Bühne bringt und eine Darstellerin wie Charlotte Wolter für sie in Bereitschaft hat, gesichert sein, aber es bleibt trotzdem ein problematisches Verdienst, den Nerven des Publicums mehr als seinem Kunstgefühl zuliebe ein großes dramatisches Talent in Bewegung zu setzen, zumal der Dichter selbst von der Leidenschaft des Verstandes, nicht von derjenigen des Herzens beseelt erscheint. Wilbrandt muß trotz der großen scenischen Wirkung, welche er mit „Arria und Messalina“ erzielte, empfunden haben, daß er auf diesem Wege nicht verharren dürfe: er hat seitdem zu anderen Stoffen, wenn auch vorerst mit geringerem Erfolge, sich hingewendet. Die praktische Thätigkeit, welche ihm fortan im Burgtheater aufgenöthigt ist, wird ihn aller Voraussicht nach vollends jenem Gebiete der Geister und Dämonen entfremden, auf welches man ihm folgte, ohne ihm zu vertrauen.

Die Methode Thomas Buckle’s, die klimatischen und geographischen Existenzbedingungen der Völker als das Maß ihrer historischen Entwickelung zu erachten, ist in der Literaturgeschichte von je her in Anwendung gewesen. Von den Homeriden auf der Insel Chios bis zu den Dichterschulen in Schwaben und Oesterreich wird das ganz äußerliche Merkmal der landschaftlichen Zusammengehörigkeit als Merkmal methodischer Eintheilung mißbraucht. Adolf Wilbrandt ist in seiner dichterischen Erscheinung geradezu ein Protest gegen diese Landkarten-Methode in der Dichtungsgeschichte — wie vermöchte man ihn, den nervösen, hastigen, modernen Poeten, mit seinem urgesunden Landsmann Fritz Reuter in dieselbe Rubrik zu pressen, das Sentimentale mit dem Naiven? Freilich, auch in Niederdeutschland gab es einen Dichter der „Bernsteinhexe“, wie in Süddeutschland einen poetischen Adepten der „Seherin von Prevost“, Jener hieß Wilhelm Meinhold, Dieser Justinus Kerner. Aber weder mit dem Einen noch mit dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 36. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_036.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)