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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882)

Theil und unter kläglichen Bedingungen Verleger finden, wird Neues aus Paris mit Freuden erworben. Heute, wo die Werke unserer ersten Dichter und Schriftsteller kaum fünf Auflagen erzielen, werden in Berlin nach annähernder Schätzung von Zola’s „Nana“ gegen 8000 Exemplare verkauft. Noch war „Die Tochter Nana’s“, das Werk der Schüler des naturalistischen Meisters, nicht zur Verschickung gelangt, und schon hatten deutsche Sortiments-Buchhändler zahlreiche Bestellungen darauf gemacht. Für die Uebersetzung Daudet’scher Romane bezahlen große deutsche Journale höhere Honorare als für die besten deutschen Originalwerke. Daudet wird in Deutschland gelesen, wenn uns Deutschen in seinen Romanen auch gar vieles ganz unverständlich bleiben muß, weil es allzu französisch ist.

Und ist es auf dem Bühnengebiete anders? Den Zierden deutscher Schauspielkunst wird es bei Gastspielen schwer, ein volles Haus zu erzielen, der großen Tamtamschlägerin Sarah Bernhardt aber bietet man fabelhafte Summen und zahlt sie auch. An unsere Tendenzstücke legen wir den strengsten kritischen Maßstab; aber dem Sturmlaufen der französischen Dramatiker gegen ein Ehestandsgesetz, das uns nichts angeht, folgte unser Publicum mit Vergnügen.

Während deutsche Theaterdirectoren für die Inscenirung heimischer Novitäten geringe Mühe aufwenden und schmale Honorare zahlen, werden um französischer Operetten und Ehebruchsdramen willen Reisen nach Paris gemacht, große Summen im Voraus bezahlt, Gäste engagirt, neue Decorationen gemalt, Costüme nach Pariser Modellen angefertigt. Durch die Franzosen ist auch der ungeheure Toilettenaufwand auf unsere Bühne gekommen, welcher Talent und Moral zu ersticken droht, und von vielen Bühnen kann man schon heute betreffs ihrer Schauspielerinnen sagen: die Kleider sind ihr besserer Theil. In Wien hörte das feine Ohr einer Berichterstatterin im Nachtkleid der von Sarah Bernhardt dargestellten „Cameliendame“ „die Cypressen rauschen“. Ich fürchte, diese Cypressen der Pariser Kleiderkünstler werden auf das Grab manches deutschen Talents verpflanzt werden.

Für die Werke der plastischen Kunst ist es in der Schätzung des deutschen Publicums leider gleichfalls ein Vorzug, wenn sie aus Paris kommen. Pariser Künstler jeder Art finden in Deutschland ein reiches Erntefeld und ziehen schwere Summen Geldes aus dem „Milliardenland“. Könnte Fürst Bismarck einen Schutzzoll für deutsche Kunst- und Luxusindustrie einführen, er würde einen erheblicheren Gewinn erzielen, als durch Besteuerung fremden Roheisens. Selbstverständlich wird im Ernst kein vernünftiger Mensch eine geistige Grenzsperre herbeiwünschen, welche uns zu chinesischen Zuständen führen müßte, aber wir sollten mit allen Mitteln der französischen Ueberlegenheit zu begegnen suchen, welche unsere eigene Production verkümmert und uns auf dem Weltmarkte schädigt.

Der Umstand, daß Frankreich so viele Länder dieser Erde, vor allem aber Deutschland seiner Kunst tributpflichtig macht, liegt nicht so sehr an der geistigen Ueberlegenheit, wie an der Tradition, an der Art, wie Paris seine Hervorbringungen durch die Presse fördert, und endlich an der Zuvorkommenheit, mit welcher die deutsche Presse den Ruhm der Franzosen verbreitet und erhöht. Sehen wir die Mittel an, durch welche der französische Geist seine Herrschaft behauptet, so wird sich die Lehre für uns von selbst ergeben.

Den Ursachen nachzuforschen, durch welche Frankreich diese Herrschaft gewann, würde hier zu weit führen. Bekannt ist, daß von Heinrich dem Vierten ab die geeinte Nation sich auf dem industriellen Gebiet rühmlichst hervorthat, daß von dem Hofe des Sonnenkönigs, dank der aufblühenden Kunst, ein Glanz ausging, der die Blicke der ganzen gebildeten Welt nach Frankreich lenkte; bekannt ist ferner, daß die Aufklärungsphilosophen um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Geister der ganzen Culturwelt in eine vorwärts drängende Bewegung brachten, welche zum Umsturz alter verrotteter Institutionen führte. Der Mittelpunkt des geistigen und commerciellen Lebens in Frankreich war Paris; hier concentrirten sich alle Kräfte; hier wurden neue Ideen geboren und der Welt durch tausend Organe verkündet. Eine Erfindung, ein Kunstwerk, ein Mode-Artikel, welcher die Anerkennung von Paris fand, besaß einen Empfehlungsbrief für ganz Europa. Wie das „Roma locuta est“ („Rom hat gesprochen“) entscheidend wirkte für die politische Welt des Alterthums, so war das Urtheil von Paris in Sachen des guten Geschmacks maßgebend für die moderne Welt.

Nach dem Zusammenbruch des ersten Kaiserreichs hatte Frankreich – und mit ihm Paris – viel von seiner Machtstellung eingebüßt, und während die Franzosen dem Phantom des Kriegsruhms nachjagten, hatte das Volk der Denker unter schweren Leiden auf dem geistigen Gebiete achtbare Eroberungen gemacht. Die Aufklärungsmänner sind im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr in Frankreich, sondern in Deutschland zu suchen; unsere Literatur zeitigte Werke von unvergänglichem Werth, und heute steht unser Culturleben sicher auf ebenso hoher Stufe wie das französische. Aber trotz unserer Fortschritte, trotz unserer neuerrungenen politischen Machtstellung übt gerade in der neuesten Zeit der französische Geist die altgewohnte Herrschaft aus.

Woher rührt diese Zauberkraft der Lutetia?

Nun, mir scheint, wir würden nicht nach dem Zifferblatt von Paris schauen, wenn dort die Zeiger nicht wirklich munter vorwärts rückten. Ja, die Franzosen schreiten rascher vorwärts, als wir, weil ihre Geistesbildung tiefer in der Gegenwart wurzelt, als die unsrige. In Frankreich haben die Lebenden Recht, bei uns die Todten. Dabei befinden sich die lebenden Franzosen wohl und die lebenden Deutschen übel. Wir thun wohl daran, uns der idealen Güter zu erfreuen, aber sehr übel, ewig bei der Bewunderung dieser Schätze zu verharren und das Neue immer mit dem Maßstab des Alten zu messen. Unsere Literarhistoriker, Aesthetiker und Feuilletonisten vergraben sich nach echt deutscher Art förmlich in den Nachlaß der Classiker, stöbern nach Briefen der Bettina, nach Aufzeichnungen Eckermann’s und jubeln, wenn sie ein Lichtchen gefunden haben, durch welches sich das mystische Dunkel im zweiten Theil des „Faust“ erhellen ließe. Da wird mit eifrigem Bemühen ein verrostetes Scherzspiel des Hans Sachs für die Bühne blank gescheuert, und wer gar ein Päckchen vergilbter Briefe des Heinrich von Kleist fand, darf kühn auf seinen Fund hin eine neue Monatsschrift gründen; das Glück kann ihm gar nicht fehlen. Kein Wunder also, daß die, welche zeitlebens in Anschauung der Classiker versunken waren, wenig Verständniß für das Neue zeigen, das aus dem Leben der Gegenwart hervorging. Sie beurtheilen alle Productionen nach den Werken der alten Meister und vergessen ganz, daß Diese auch einst Kinder ihrer Zeit waren; sie vergessen, daß das Beste, was Jene geschaffen, tief im Geistesleben ihrer Zeit wurzelt, einer Zeit also, die nicht mehr die unsrige ist, und daß Altmeister Goethe das kluge Wort sprach: „Greift nur hinein in’s volle Menschenleben!“ Unsere Maler, die zum Theil diesen Rath befolgen, mußten sich in Berlin von einem süddeutschen Aesthetiker eine Bußpredigt gefallen lassen; denn der Abfall von den großen Vorbildern ist Ketzerei und führt zum Abgrund des Alltäglichen. Nach dem französischen Beispiel haben wir zur Förderung der Künste Preise, Medaillen und Auszeichnungen anderer Art eingeführt, und obgleich dieselben noch ziemlich dürftig bemessen sind, so könnte doch viel Gutes damit erreicht werden, wenn man die Selbstständigen ermuntern wollte und nicht die Nachahmer. Wir belohnen die Stehenbleibenden, Frankreich die Fortschreitenden, und das sichert dieser Nation in erster Linie die Aufmerksamkeit der Nachbarvölker; denn das Neue hat für alle Menschen einen unwiderstehlichen Reiz. Der Wechsel belebt und verjüngt in der Kunst wie im Leben, wie

der Strom, welcher rasch fluthet, Wellen hat und Alles mit sich fortreißt. In Paris kennt man kaum ein größeres Lob, als wenn die gute Gesellschaft erklärt: das ist neu. Bei uns fragt man vor der neuen Erscheinung: paßt sie in die alte Schablone? Dadurch, daß die französische Kunst aus der Zeitströmung heraus geboren wird, daß sie alle Fragen der Gegenwart erfaßt und dieselben der Lösung näher zu bringen oder wiederzuspiegeln sucht, bleibt sie vor Einseitigkeit bewahrt und fördert fortwährend Neues und Anziehendes zu Tage. In Paris verzweifelt man nicht gleich, wenn das Neue schlecht ist, sondern man glaubt an den Triumph des Guten. Träte bei uns ein Zola auf, so riefe man sofort nach der Polizei, jammerte über den Verfall der schönen Literatur, und die Romantiker hingen ihre Harfen an den Weiden der Ilm auf und weinten an der Weimarer Dichtergruft blutige Thränen. Wenn dagegen in Frankreich ein fragwürdiges Literaturproduct an’s Tageslicht tritt, dann sagen sich die Beständigen ruhig: diese neue Dichtung wird bald in eine Sackgasse gerathen, und der Strom des Lebens wird über sie wegfluthen. Victor Hugo zerschellt nach den Angriffen der Naturalisten durchaus nicht seine Leier, sondern dichtet mit freudigem Muthe „Die vier Windrichtungen des Geistes“. Das Erhabene geht nicht unter, selbst wenn das Triviale sich noch so breit macht. Nehmen wir aber den Fall an, eine ganze Nation verfolge eine Zeitlang Irrwege, so wäre das nicht schlimmer, als

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1882). Leipzig: Ernst Keil, 1882, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1882)_131.jpg&oldid=- (Version vom 3.7.2023)