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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage

Der Mutter indessen wurde es mit der zunehmenden Morgendämmerung immer deutlicher, daß ja unmöglich ein Mann aus Seldwyla in die Familie heirathen dürfe, aus dem Orte, in welchem noch nie Einer auf einen grünen Zweig gekommen sei und wo Niemand etwas besitze. Sie wachte daher mit Sorge, aber auch mit Entschlossenheit dem Morgen entgegen, um das entstehende Uebel im Werden zu ersticken, das ihr um so größer erschien, wenn sie noch der strengen Gesinnung der Männer ihres Hauses in diesem Punkte gedachte.

Bestärkt wurde sie noch in diesen Vorsätzen, als um die Zeit des Sonnenaufganges ein später Schlafgänger, offenbar angetrunken, die Treppen heranstieg und von einem Hausbediensteten an den verschiedenen Zimmerthüren vorbei geleitet wurde, nicht ohne vor derjenigen der Glor'schen Frauen über deren Schuhe zu stolpern und dieselben mit dem Fuße wegzuschleudern. Die Schuhe der Mama fuhren, der eine überzwerch, der andere mit dem Hintertheil voran, den ganzen Corridor entlang; die Stiefelchen der Tochter aber reisten in Folge eines rückwärts scharrenden Stoßes, wie zwei wettfahrende Schifflein der Treppe zu und über dieselbe hinunter.

„Aha!" rief drinnen die wachsame Frau, „da haben wir den Seldwyler!"

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Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, 2. vermehrte Auflage. Göschen, Stuttgart 1874, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Leute_von_Seldwyla_3-4.pdf/403&oldid=- (Version vom 31.7.2018)