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weil sie eine rote Rose sein will. Sie wäre furchtbar selbstsüchtig, wenn sie verlangte, alle andern Blumen im Garten sollten rot und Rosen sein. Im Reiche des Individualismus werden die Menschen ganz natürlich und völlig uneigennützig sein, und werden den Sinn der Worte verstehen und ihn in ihrem freien, schönen Leben verwirklichen. Die Menschen werden nicht egoistisch sein, wie sie es heute sind. Denn Egoist ist, wer an andere Ansprüche stellt, und der Individualist wird das nicht tun wollen. Es wird ihm kein Vergnügen machen. Wenn der Mensch den Individualismus verwirklicht hat, wird er auch das Mitgefühl verwirklichen und es frei und ungehemmt walten lassen. Bis jetzt hat der Mensch das Mitgefühl überhaupt kaum geübt. Er hat bloss Mitgefühl mit Leiden, und das ist nicht die höchste Form des Mitgefühls. Jedes Mitgefühl ist schön, aber Mitleid ist die niedrigste Form. Es ist mit Egoismus durchsetzt. Es kann leicht krankhaft werden. Es liegt in ihm ein gewisses Element der Angst um unsere eigene Sicherheit. Wir fürchten, wir selbst

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Oscar Wilde: Drei Essays. Karl Schnabel, Berlin 1904, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Drei_Essays_Oscar_Wilde.pdf/95&oldid=- (Version vom 31.7.2018)