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Entblößung der geistigen Kräfte in der aktiven Nacht

Seele Wurzel faßt, ergießen sich zugleich Hoffnung und Liebe in sie – freilich eine Liebe, die sich nicht im Gefühl durch eine gewisse Zärtlichkeit kundgibt, sondern sich in der Seele offenbart durch Kraft und größeren Mut und ungekannte Herzhaftigkeit. Gott, dem Unbegreiflichen, der über allem thront, „müssen wir auf dem Wege der völligen Entsagung entgegengehen“[1].

Unter dem Namen Offenbarungen faßt Johannes zwei verschiedene Arten geistiger Mitteilungen zusammen: intellektuelle Erkenntnisse, in denen verborgene Wahrheiten enthüllt werden – sie können sich auf stoffliche oder geistige Dinge beziehen –, und Offenbarungen im strengen und eigentlichen Sinne, durch die Geheimnisse kundgemacht werden. Die Erkenntnisse reiner Wahrheiten sind durchaus verschieden von dem vorher besprochenen Schauen körperlicher Dinge. Es werden darin Wahrheiten über den Schöpfer oder die Geschöpfe erkannt. Damit ist eine unvergleichliche und unaussprechliche Wonne verbunden. „Denn diese Erkenntnisse haben unmittelbar Gott zum Inhalt und dringen tief ein in die eine oder andere Seiner Eigenschaften .... und jede dieser Erkenntnisse prägt sich der Seele dauernd ein. Da dies in reiner Beschauung vor sich geht, erkennt die Seele deutlich, daß es rein unmöglich ist, etwas davon in Worten auszudrücken, außer etwa in allgemein gehaltenen Begriffen.... Die sind jedoch völlig unzureichend zum vollen Verständnis dessen, was die Seele gekostet und empfunden hat“. Handelt es sich um eine Erkenntnis Gottes selbst, so ist dabei nichts einzelnes zu unterscheiden. „Diese erhabenen, liebenden Erkenntnisse können nur einer Seele zuteil werden, die zu göttlicher Vereinigung gelangt ist, weil sie ja nichts anderes sind als diese Vereinigung selber“, eine „Art Berührung zwischen der Seele und der Gottheit ....“, die „das Wesen der Seele durchdringt“. Von manchen „Erkenntnissen und Berührungen, die Gott im Wesen der Seele bewirkt“, reicht eine einzige hin, die Seele „nicht nur mit einemmal von allen Unvollkommenheiten zu läutern, die sie ihr ganzes Leben lang nicht hätte ablegen können, sondern sie auch dazu mit göttlichen Gnaden und Tugenden zu überhäufen“. Und sie sind so voll innerster Wonne, daß eine einzige die Seele „hinlänglich entschädigt .... für alle Leiden, die sie ihr Leben lang ausgestanden hat, und wären sie auch zahllos gewesen....“ Die Seele kann unmöglich durch eigene Betätigung zu solch erhabenen Erkenntnissen gelangen. Gott allein wirkt sie in ihr ohne ihr eigenes Zutun, oft wenn sie am wenigsten daran denkt oder danach verlangt. Und weil sie so plötzlich


  1. a. a. O. B. II Kap. 22, E. Cr. I 231.
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/064&oldid=- (Version vom 3.8.2020)