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Tod und Auferstehung

bereit gemacht, sich mit allen ihren Kräften von den irdischen Gütern abzuwenden und zu den himmlischen zu erheben.

Aber damit ist erst die halbe Arbeit getan. Man würde niemals ans Ziel, zur Vereinigung mit Gott, gelangen, wenn man bei den übernatürlichen Mitteilungen stillstehen und in ihrem Genuß ruhen wollte. Denn Visionen, Offenbarungen und süße Empfindungen sind nicht Gott selbst und führen auch nicht zu Ihm – von jenen höchsten, rein geistigen Berührungen abgesehen, in denen sich Gott selbst dem Wesen der Seele mitteilt und eben damit die Vereinigung vollzieht. So muß die Seele sich auch von allem Überirdischen, von den Geschenken Gottes, wieder losmachen, um statt der Gaben den Geber zu gewinnen. Was aber wird sie bestimmen, so große Güter freiwillig preiszugeben? Darauf arbeitet wiederum der Glaube hin, der sie lehrt, daß Gott nichts von all dem ist, was sie fassen und begreifen kann, und sie einladet zu seinem dunklen Weg, der allein zum Ziel führt[1]. Aber er würde damit wenig ausrichten, wenn er sich nur mit belehrenden Worten an den Verstand wendete. Die mächtige Wirklichkeit der natürlichen Welt und der übernatürlichen Gnadengeschenke muß durch eine noch mächtigere Wirklichkeit aus den Angeln gehoben werden. Das geschieht in der passiven Nacht. Ohne sie – so betont Johannes immer wieder – würde die aktive niemals ans Ziel kommen. Die starke Hand des lebendigen Gottes muß selbst eingreifen, um die Seele aus den Schlingen alles Geschaffenen zu befreien und an sich zu ziehen. Dieses Eingreifen ist die dunkle, mystische Beschauung, verbunden mit der Entziehung alles dessen, was bisher Licht, Halt und Trost gegeben hat.


3. Tod und Auferstehung

a) Passive Nacht des Geistes

Glaube, dunkle Beschauung, Entblößung

Wir wissen schon aus der Nacht der Sinne, daß ein Zeitpunkt kommt, in dem der Seele der Geschmack an allen geistlichen Übungen ebenso wie an allen irdischen Dingen genommen wird. Sie wird völlig in Dunkelheit und Leere versetzt. Es bleibt ihr gar nichts anderes mehr, woran sie sich halten könnte, als der Glaube. Der Glaube stellt ihr Christus vor Augen: den Armen, Erniedrigten,


  1. Aufstieg, B. II Kap. 3, E. Cr. I 106 ff. 106
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Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/106&oldid=- (Version vom 3.8.2020)