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Passive Nacht des Geist

Gekreuzigten, am Kreuz selbst vom göttlichen Vater Verlassenen. In Seiner Armut und Verlassenheit findet sie die ihre wieder. Trockenheit, Ekel und Mühsal sind das „rein geistige Kreuz“, das ihr gereicht wird. Nimmt sie es an, so erfährt sie, daß es ein sanftes Joch und eine leichte Last ist. Es wird ihr zum Stab, der sie schnell bergauf führt. Wenn sie erkennt, daß Christus in der äußersten Erniedrigung und Vernichtung am Kreuz das Größte gewirkt hat, die Versöhnung und Vereinigung der Menschheit mit Gott, dann erwacht in ihr das Verständnis dafür, daß auch für sie das Vernichtetwerden, der „Kreuzestod bei lebendigem Leibe, im Sinnlichen wie im Geistigen“[1], zur Vereinigung mit Gott führt. Wie Jesus in seiner Todesverlassenheit sich in die Hände des unsichtbaren und unbegreiflichen Gottes übergab, so wird sie sich hineinbegeben in das mitternächtliche Dunkel des Glaubens, der der einzige Weg zu dem unbegreiflichen Gott ist. So wird ihr die mystische Beschauung zuteil, der „Strahl der Finsternis“[2], die geheimnisvolle Gottesweisheit, die dunkle und allgemeine Erkenntnis: sie allein entspricht dem unfaßlichen Gott, der den Verstand blendet und ihm als Finsternis erscheint. Sie strömt in die Seele ein und kann es um so lauterer, je freier die Seele von allen anderen Eindrücken ist. Sie ist etwas viel Reineres, Zarteres, Geistigeres und Innerlicheres als alles, was der Erkenntnis aus dem natürlichen Geistesleben bekannt ist, auch hinausgehoben über die Zeitlichkeit, ein wahrer Anfang des ewigen Lebens in uns. Es ist kein bloßes Annehmen der gehörten Glaubensbotschaft, kein bloßes Sichzuwenden zu Gott, den man nur vom Hörensagen kennt, sondern ein inneres Berührtwerden und ein Erfahren Gottes, das die Kraft hat, von allen geschaffenen Dingen loszulösen und emporzuheben und zugleich in eine Liebe zu versenken, die ihren Gegenstand nicht kennt. Ob dieses dunkle, liebende Erkennen, worin die Seele in ihrem Innersten von Gott berührt wird – von „Mund zu Mund“, von Wesenheit zu Wesenheit –, noch zum Glauben gerechnet werden kann, wollen wir jetzt nicht entscheiden[3]. Es ist die Hingabe der Seele durch den Willen (als ihren Mund) an das liebende Entgegenkommen des immer noch verborgenen Gottes: Liebe, die nicht Gefühl, sondern Tat- und Opferbereitschaft ist, Hineinstellen des eigenen Willens in den göttlichen Willen, um von Ihm allein geleitet zu werden. Wenn nun der Seele


  1. Aufstieg, B. II Kap. 6, E. Cr. I 123 ff.
  2. Dionysius Areopagita, Mystica Theologia, I 1.
  3. Johannes spricht über das Verhältnis von Glauben und Beschauung an verschiedenen Stellen in verschiedenen Ausdrücken. Wir werden darauf am Ende dieses Paragraphen noch einmal zurückkommen.
Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Kreuzeswissenschaft. Editions Nauwelaerts, Louvain 1954, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Kreuzeswissenschaft.pdf/107&oldid=- (Version vom 3.8.2020)