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Sein und Zeit

Sinn werden wir diese Erfahrung aber erst machen, wenn wir sterben. Indessen wird manches davon doch schon während des Lebens vorweggenommen. Was Heidegger Sterben nennt – das Sein zum Tode oder Vorlaufen in den Tod – legt davon Zeugnis ab. (Daß er dieser Vorwegnahme gegenüber das eigentliche Sterben gar nicht berücksichtigt, hängt zusammen mit seiner allgemeinen Überbewertung der Zukunft und Entwertung der Gegenwart. Damit wiederum steht in Zusammenhang, daß er das für alle Erfahrung grundlegende Phänomen der Erfüllung gänzlich unberücksichtigt läßt.) Es muß hier unterschieden werden zwischen der Angst als der Befindlichkeit, die dem Menschen sein Sein zum Tode enthüllt, und der Entschlossenheit, die es auf sich nimmt. In der Entschlossenheit ist die Angst zum Verständnis gelangt. Die Angst als solche versteht sich selbst nicht. Heidegger deutet sie zugleich als Angst vor dem eigenen Sein und als Angst um das eigene Sein. Bedeutet dabei Sein beidemal dasselbe? Oder richtiger: ist es dasselbe am Sein, wovor und worum man sich ängstigt? Das, wovor man sich ängstet, ist das Nicht-sein-können, das eben durch die Angst bezeugt wird: sie ist die Erfahrung der Nichtigkeit unseres Seins. Das, worum man sich ängstet, und zugleich das, worum es dem Menschen in seinem Sein geht, das ist das Sein als eine Fülle, die man bewahren und nicht lassen möchte – das, wovon in Heideggers ganzer Daseinsanalyse nicht die Rede ist und wodurch sie doch erst Grund und Boden gewinnen würde. Wenn Dasein einfach Nicht-sein wäre, dann wäre keine Angst vor dem Nicht-sein-können und um das Seinkönnen möglich. Beides ist möglich, weil menschliches Sein Anteil an einer Fülle ist, von der ständig etwas entgleitet und etwas gewonnen wird: Leben und Sterben zugleich. Demgegenüber bedeutet das eigentliche Sterben den Verlust der Fülle bis zur vollkommenen Entleerung und der Tod die Leere oder das Nichtsein selbst.

Es ist nun die Frage, ob aus der Angst das Verständnis für die Möglichkeit des eigenen Nichtseins und sogar die Einsicht in die Unausweichlichkeit des Todes erwachsen würde, wenn sie das Einzige wäre, wodurch wir etwas von unserem eigentlichen Sterben vorwegnehmen. Rein verstandesmäßig zu folgern ist aus der Nichtigkeit unseres Seins nur die Möglichkeit des Nichtseins, nicht die Notwendigkeit eines zu erwartenden Endes. Und in dem rein natürlichen und gesunden Lebensgefühl, dem vortheoretischen Seinsverständnis,

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Martin Heideggers Existentialphilosophie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1962, Seite 103. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Welt_und_Person.pdf/103&oldid=- (Version vom 31.7.2018)