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Walther Kabel: Ein Wiederfinden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 9)

des anbrechenden Tages hörbar, das Klirren der Waffen, unterdrückte Stimmen und das dumpfe Brüllen der Ochsen.

Im Zelt wird es lichter. Und da, da ist’s, als ob der Kranke sich leise regt, den Körper streckt.

Horst Dittmers sucht den gesunden, nicht von dem Verbande eingeschnürten Arm zu bewegen. Schnell gibt sie seine Hände frei. Und dieses Nachlassen des Druckes um seine Finger bringt ihn völlig zur Besinnung. Er schlägt die Augen auf, die erst ruhelos, staunend über die Umgebung hineilen und sich dann festsaugen mit einem Aufdruck unendlichen Entzückens in Frau Ellens nie vergessenen Zügen. Aber die Augen schließen sich wieder. Und über des eben Erwachten Gesicht huscht ein Ausdruck qualvoller Enttäuschung. Seine Lippen zittern, und kaum vernehmbar flüstert er: „Ein Traum – nur ein Traum!“ Und dann ein tiefes, verzweifeltes Stöhnen.

Frau Ellen begreift. Wie soll er auch ahnen, daß das eben geschaute Bild Wirklichkeit ist? Er muß ja annehmen, daß nur der traumbefangene Geist auf seinen phantastischen Pfaden ihm dieses Glück vorgetäuscht hat.

Mit unendlicher Vorsicht beugt sie sich weit über ihn, drückt leise ihre weichen Lippen auf die seinen: „Horst, ich bin’s – deine Ellen. Bewege dich nicht, du sollst ja gesund werden, gesund für mich, die nie wieder von dir geht – nie, nie wieder!“

Er will sich aufrichten, fragen. Aber sanft drückt sie ihn in die Decken zurück, streichelt beruhigend seine Wangen und nennt nur bisweilen seinen Namen mit alter Innigkeit.

So schläft er wieder ein. Und seine tiefen, regelmäßigen Atemzüge sagen ihr, daß es der Schlaf der Genesung ist.

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Walther Kabel: Ein Wiederfinden (Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Band 9). Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1910, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ein_Wiederfinden.pdf/22&oldid=- (Version vom 31.7.2018)