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Walther Kabel: Eine merkwürdige Liebesgeschichte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 202–206

Lichatschews Karte in kleine Stückchen. Das war ihre einzige Antwort.

Mit Bangen sah sie dem folgenden Tage entgegen. Sie fürchtete, daß sie wieder das zweifelhafte Vergnügen haben würde, vor leerem Hause zu spielen. Ihre Besorgnis war aber umsonst. Das Theater zeigte sich bis auf den letzten Platz gefüllt. Auffallenderweise herrschte jedoch im Zuschauerraum, schon bevor der Vorhang hochging, eine Heiterkeit, die sich immer wieder in lauten Lachsalven Bahn brach, und für die die Schauspieler hinter dem Vorhang zunächst keine rechte Erklärung fanden. Endlich wurde man gewahr, welche Ursache diese auffällige Fröhlichkeit hatte. Lichatschew, von dem wieder sämtliche Karten aufgekauft worden waren, hatte die Plätze auf der rechten Seite des Theaters ausschließlich an – Kahlköpfe verschenkt, so daß dieses Meer von im Lichterschein strahlenden Glatzen einen geradezu überwältigend komischen Eindruck machte.

Die Aufführung verlief im übrigen ohne Störung, abgesehen von einigen schlechtverhehlten Heiterkeitsausbrüchen, die die Darsteller selbst auf offener Szene beim Anblick der „haarlosen“ rechten Theaterseite nicht unterdrücken konnten. Ida Mölmer, die ihre durch diesen neuen Racheakt nur zu sehr verärgerte Stimmung meisterlich zu verbergen wußte, erntete wahre Beifallsstürme, an denen sich auch die drei Gardeoffiziere in der Mittelloge eifrigst beteiligten.

Am folgenden Vormittag schickte Lichatschew der Operettendiva zusammen mit einem wunderbaren Rosenstrauß einen Brief, in dem er um die Gewährung einer kurzen Unterredung bat. Unterzeichnet war das Schreiben mit: „Ein reuiger Sünder.“ Die Künstlerin warf dem Boten Brief und Blumen einfach vor die Füße.

Der dritte Gastspielabend war da. Nicht ohne Herzklopfen begab sich die fesche Wienerin in das Theater. Wußte sie doch nicht, welch neue Tücke ihr unberechenbarer Feind inzwischen wieder ausgebrütet hatte. Doch dieses Mal ereignete sich nichts. Der Musentempel war von einem normalen Publikum bis auf den letzten Galerieplatz besetzt, und die schöne Mölmer spielte daher mit so übermütigem Schneid und so dezenter

Empfohlene Zitierweise:
Walther Kabel: Eine merkwürdige Liebesgeschichte. In: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1913, Bd. 9, S. 202–206. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, Berlin, Leipzig 1913, Seite 204. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Eine_merkw%C3%BCrdige_Liebesgeschichte.pdf/4&oldid=- (Version vom 31.7.2018)