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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10

nicht den großen Gesichtspunkt zu verlieren, der allein sie leiten könne, wenn sie die Wahrheit finden wollen. Nach einem längeren geistvollen Hinweis auf Wesen und Bedeutung der Geschworenengerichte und auf die manchmal nicht unberechtigte Furcht vor gelehrten Richtern, ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, nicht nach Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu urteilen, sondern sich einzig und allein zu fragen: Was ist erwiesen?

Im weiteren ersuchte der Verteidiger die Geschworenen, sich auch von keiner Seite außerhalb des Saales irgendwie beeinflussen zu lassen und nicht darauf zu achten, wenn in der Öffentlichkeit dieser oder jener seine Meinung über die Schuld oder Unschuld der Angeklagten kundgebe. Den Geschworenen müsse als einziger Leitfaden die freie Beweiswürdigung dienen, und wenn diese freie Beweiswürdigung und ihre Grenzen richtig eingeschätzt würden, müßten sie zu einem Nichtschuldig kommen. Die Tatsachen treiben zu diesem Schluß. Aber die Angeklagte sei auch nicht eine Persönlichkeit, der man ohne weiteres eine solche Tat zutrauen könne. Der Verteidiger nahm den Sachverständigen Dr. Toby Cohn nachdrücklich gegen die Ausführungen des Staatsanwalts in Schutz und führte aus, daß dessen Gutachten ein in jeder Beziehung wohlbegründetes und durchaus nicht im Gegensatz zum Kortumschen Gutachten stehendes war. Es erübrige sich daher, alle vorhandenen Möglichkeiten noch einmal durchzugehen und die Schlußfolgerungen des Staatsanwalts zu widerlegen, denn schon nach diesem Gutachten müßten die Geschworenen zu einem Nichtschuldig kommen, da danach die freie Willensbestimmung der Angeklagten in den kritischen Augenblicken ausgeschlossen war. Zu den „Möglichkeiten“ würde schließlich auch die noch gar nicht berührte Frage der Notwehr gehören. Wenn man annehme, daß der erste Schuß derjenige gewesen, der den Hut der Angeklagten durchbohrte, so sei die weitere Tätigkeit der letzteren auch aus dem Gesichtspunkte der

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 10. Hermann Barsdorf, Berlin 1914, Seite 262. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_10_(1914).djvu/266&oldid=- (Version vom 7.3.2023)