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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3

und ihre Krankheit wurde verschlimmert durch ihre Umgebung und ihre Lebensschicksale. Von einer bewußten Beeinflussung dritter Personen könne bei ihrem Zustande keine Rede sein. Ihre Intelligenz ist kaum mittelmäßig, dafür zeugt schon ihre gänzlich verfehlte, kindische Verteidigung. In Betracht zu ziehen ist auch das besondere russische Milieu und die Liebe zum Alkohol, die dort in den höheren Klassen allgemein ist. In dem Käfig sehen wir hier drei Kranke, denn auch Prilukow ist krank, aus Überarbeitung und Trunksucht. Nach den italienischen Gesetzen müsse unbedingt der Paragraph 47 des Strafgesetzbuches für die Tarnowska in Anwendung kommen, der eine Strafminderung wegen physischer und geistiger Schwäche vorsieht. – Während dieses Vortrages wurde die Angeklagte wiederholt von Unwohlsein befallen. – Professor Dr. Cappeletti, Direktor des Irrenhauses zu Venedig führte aus: Der Körperbau Naumows weist zwar äußerlich keine Anomalien auf, aber seine innere physiologische und psychologische Struktur ist unregelmäßig. Am meisten waren die Anomalien in den Funktionen des Gefühls und der Bewegung nachzuweisen. Wir haben festgestellt, daß Naumow eine ausgesprochene krankhafte psychische Anlage hat. Die freiwillige Aufmerksamkeit ist mangelhaft und wenig widerstandsfähig; seine Phantasie ist so lebhaft, daß er als Kind Geschichten erfand und als Jüngling sich an phantastischen Bildern ergötzte. Sein Gedächtnis ist gut und zeigt nur Lücken für die Zeit, wo er in die Tarnowska verliebt war, weil damals seine ganze Seele in diesem Leidenschaftsfeuer polarisiert wurde. Er ist durchaus moralisch und kein geborener Verbrecher. Sein Willen ist schwach, was ein Zeichen der Entartung ist und abulisch (willensschwach), in der wissenschaftlichen Bedeutung des Wortes. Naumow hat ein starkes Gefühl für seine persönliche Würde, das ihn in der Verhandlung und im Verkehr mit den ärztlichen Sachverständigen bei all seiner Nachgiebigkeit nie verlassen

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Hugo Friedländer: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 3. Hermann Barsdorf, Berlin 1911, Seite 56. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Friedlaender-Interessante_Kriminal-Prozesse-Band_3_(1911).djvu/64&oldid=- (Version vom 5.1.2023)