Seite:George Sand Indiana.djvu/173

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

„Da war es entschieden, daß niemand mich lieben würde, denn ich konnte niemandem meine Liebe ausdrücken. Man stieß mich fast aus dem väterlichen Hause und zwang mich, wie ein armer Vogel auf den Felsenklippen zu leben. Du weißt, Indiana, was für eine traurige Kindheit mir beschieden war. Jedoch der Himmel sandte mir einen Trost, eine Hoffnung. Du tratest in mein Leben, als wenn du für mich geschaffen worden wärest. Armes Kind! Du warst verlassen wie ich; ohne Liebe und ohne Schutz, schienst du mir bestimmt zu sein. Zehn Jahre lang warst du mein, ungeteilt mein! Damals wußte ich noch nicht, was Eifersucht sei. Ich machte aus dir meine Schwester, meine Gefährtin, meine Schülerin. Ich fing an, mich zu achten, da ich dir nützlich wurde. Nachdem ich deinetwegen die Last des Lebens auf mich genommen hatte, regte sich in mir die Hoffnung auf einen Dank. Ich gewöhnte mich an den Gedanken, daß du meine Gattin werden könntest; verzeihe mir dieses Wort, das ich auch jetzt nur mit Zittern auszusprechen wage. Meine Phantasie schmückte dich bereits mit allen Reizen der Jugend; ich war ungeduldig, dich zur Jungfrau heranwachsen zu sehen. Jeden Morgen forschte ich, welch eine Wirkung ein Tag mehr auf dich hervorgebracht hätte; denn ich war schon ein Jüngling von fünfzehn Jahren und du warst noch ein Kind. Schon glühten in meinem Busen Leidenschaften, deren Namen dir unbekannt waren, du erstauntest oft über mein trauriges Wesen und ich schien dir melancholisch und wunderlich. Dennoch liebtest du mich, wie ich war; jeder Augenblick meines Lebens war nur dir geweiht und meine Leiden machten dich meinem Herzen nur teurer. Ich lebte der Hoffnung, daß du bestimmt seiest, sie einst in Freuden zu verwandeln.

„Ach, verzeihe mir den verbrecherischen Gedanken; wenn es ein Frevel war, auf dich zu hoffen, so ist Gott allein strafbar, mir diesen Gedanken zum alleinigen Troste gegeben zu haben. Wovon konnte dieses gedrückte, verkannte Herz leben, von wem konnte es

Empfohlene Zitierweise:
George Sand: Indiana. Karl Prochaska, Leipzig [u.a.] [1904], Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:George_Sand_Indiana.djvu/173&oldid=- (Version vom 1.8.2018)