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Diese Erstaufführung ist in der Geschichte bekannt geworden durch die schlechte Beurteilung seitens Richard Wagners und seiner Anhänger.

Zunächst vom Äußeren zu sprechen, so ist es falsch, wenn behauptet wird, Reissiger hätte den Chorsatz weggelassen. Dies ist ein Irrtum, denn in der Ankündigung und im Berichte (A. M. Z. 1838, S. 800) ist er ausdrücklich erwähnt[1] Daß ferner Reissiger eine einzige Probe abgehalten hätte, wie eine andere Stelle behauptet, ist bereits widerlegt durch O. Schmids Veröffentlichung eines Briefes von einem damals mitwirkenden Kammermusikus (Hiebendahl) in der Zeitschrift: „Das Orchester“ 1886, Nr. 13. Es fanden drei Proben statt, wobei man bedenken muß, daß Reissiger es mit allerersten Mitwirkenden zu tun hatte.

Wenn nun Wagner Reissiger das Verständnis der Neunten absprach, so widerspricht das erstens dem sonst Reissiger immer – eben nur mit Ausnahme Wagners – nachgerühmten tiefen Verstehen Beethovens. Zwar war Reissiger durch die solide klassische Schule eines Schicht gegangen, welche vielleicht dem letzten Beethoven nicht mehr ganz gerecht werden konnte, aber Reissiger selbst war doch in der Erkenntnis Beethovens weiter gedrungen. Man erinnere sich der ihm wie Offenbarung erschienenen Belehrungen über Beethoven durch die Generalin Ertmann in Bologna, ferner seiner begeisterten, anderen Dirigenten vorbildlichen Leitung der übrigen Sinfonien, welche durch ihn eine eigentliche Stätte in Dresden fanden[2]. Seine Freunde Rellstab und Spohr waren allerdings erklärte Gegner des letzten Beethoven; er aber hatte großes Interesse für Neues. Dafür spricht einmal sein warmes Eintreten als Dirigent für die Moderne, wovon wir noch handeln werden, dann auch die Komposition von Werken neuerer Richtung, wie Programmouvertüren, Liedern ohne Worte.

Warum sollte Reissiger die Neunte nicht verstanden haben, wo er doch einige Jahre später (1845 und 1854), wie wir vorgreifend erwähnen, ein so begeisterter Fürsprecher für die noch moderneren Schöpfungen eines Berlioz wurde? Hätte Reissiger wirklich, wenn ihm das Werk zuwider gewesen wäre, eine Wiederholung der Sinfonie ca. drei Monate später veranstaltet? Die Erfahrung aber, die er bei diesen zwei Aufführungen gemacht hatte, daß nämlich Publikum und Kritik nicht mitgingen[3], wird ihm das Bedenken, welches wenigstens Wagner von ihm behauptet, gegen eine Aufführung 1846 zu wohltätigen Zwecken, wo man das Publikum wegen eines

finanziellen Erfolges gerade heranziehen mußte, erregt haben.


  1. Die „Neunte“ ohne Chorsatz aufzuführen ist heute, wenn auch nicht die Regel, so doch nicht gerade unmöglich (N. Z. f. M. 1916 Korr. aus Hamburg). Bülow führte die Sinfonie auch ohne Chor auf. Also wäre es zu R.s Zeit gar nicht einmal so befremdend gewesen, da man überhaupt damals selten alle Sätze einer Sinfonie in einem Konzert spielte.
  2. Übrigens hat R. für Beethoven, wenn er in Briefen auf ihn zu sprechen kommt, nur Worte größter Verehrung. (Vgl. z. B. unveröffentlichtes Manuskript im Besitze des Herrn Prof. Anacker-Dresden.
  3. In der A. M. Z. 1838 S. 800 gibt Miltitz die allgemeine zeitgenössische Anschauung über das Werk wieder: Die Musiker, die das Werk mit den Proben acht- oder zehnmal gehört haben, erklären es für B.s würdig. Ich zweifle keinen Augenblick daran, da ich es aber nur zweimal gehört habe, so hat es mich nicht so angesprochen, als die anderen herrlichen Sinfonien dieses Meisters, die einen gleich aufs erstemal entzücken. Gegen das Thema und die Behandlung des Chors in melodischer Hinsicht sollte ich glauben, ließen sich auch bei öfterem Hören Einwendungen machen.