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das erste Verderben des Kindes, denn wenn es sieht, daß auf seinen Ruf Alles herbeykommt: so wiederholt es sein Schreyen öfter.

Man kann wohl mit Wahrheit sagen, daß die Kinder der gemeinen Leute viel mehr verzogen werden, als die Kinder der Vornehmen. Denn die gemeinen Leute spielen mit ihren Kindern, wie die Affen. Sie singen ihnen vor, herzen, küssen sie, tanzen mit ihnen. Sie denken also dem Kinde etwas zu gute zu thun, wenn sie, sobald es schreyt, hinzulaufen und mit ihm spielen u. s. w. Desto öfter schreyen sie aber. Wenn man sich dagegen an ihr Schreyen nicht kehrt, so hören sie zuletzt damit auf. Denn kein Geschöpf macht sich gerne eine vergebliche Arbeit. Man gewöhne sie aber nur daran, alle ihre Launen erfüllt zu sehen: so kömmt das Brechen des Willens nachher zu spät. Läßt man sie aber schreyen, so werden sie selbst desselben überdrüssig. Wenn man ihnen aber in der ersten Jugend alle Launen erfüllt, so verdirbt man dadurch ihr Herz und ihre Sitten.

Das Kind hat freylich noch keinen Begriff von Sitten, es wird aber dadurch seine Naturanlage in der Art verdorben, daß man nachher sehr harte Strafen anwenden muß, um das Verdorbene wieder gut zu machen. Die Kinder äußern nachher, wenn man es ihnen abgewöhnen will, daß man immer auf ihr Verlangen hinzueile, bey ihrem Schreyen eine so große Wuth, als nur immer große Leute deren fähig sind, nur daß ihnen die Kräften fehlen, sie in Thätigkeit zu setzen. So lange sie nur haben rufen dürfen, und Alles kam herbey, herrschten sie also ganz despotisch. Wenn diese Herrschaft nun aufhört, so verdrüßt sie das ganz natürlich.

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Immanuel Kant: Über Pädagogik. D. Friedrich Theodor Rink, Königsberg 1803, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Immanuel_Kant_%C3%9Cber_P%C3%A4dagogik_K%C3%B6nigsberg_1803.pdf/37&oldid=- (Version vom 1.8.2018)