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anstatt sie durch eine vernünftige Folge zu befriedigen, nur durch seltsame und keineswegs lobenswürdige Kunstgriffe aufzuspannen. Ich tadle das Bestreben, aus Geschichten, die sich der Einheit des Gedichts nähern sollen, rhapsodische Räthsel zu machen und den Geschmack immer tiefer zu verderben. Die Gegenstände Ihrer Erzählungen gebe ich Ihnen ganz frey, aber lassen Sie uns wenigstens an der Form sehen, daß wir in guter Gesellschaft sind. Geben Sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht sey, wahr, natürlich und nicht gemein, so viel Handlung als unentbehrlich und so viel Gesinnung als nöthig ist, die nicht still stehe, sich nicht auf Einem Flecke zu langsam bewege, sich aber auch nicht übereile, in der die Menschen erscheinen wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebenswürdig. Ihre Geschichte sey unterhaltend, so lange wir sie hören, befriedigend wenn sie zu Ende ist und hinterlasse uns einen stillen Reitz weiter nachzudenken.

Kennte ich Sie nicht besser, gnädige Frau, versetzte der Geistliche, so würde ich glauben, Ihre Absicht sey mein Waarenlager, noch eh’ ich irgend etwas davon ausgekramt habe, durch diese hohen und strengen Forderungen völlig in Mißkredit zu setzen. Wie selten möchte man Ihnen nach Ihrem Maßstab Genüge leisten können. Selbst in diesem Augenblicke, fuhr er fort, als er ein wenig nachgedacht, nöthigen Sie mich die Erzählung die ich im Sinne hatte, zurück zu stellen und auf eine andere Zeit zu verlegen, und ich weiß wirklich nicht, ob ich mich in der Eile vergreife, wenn ich eine alte Geschichte, an die ich aber immer mit

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-42. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/50&oldid=- (Version vom 1.8.2018)