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Die Zeit der Abwesenheit geht auch vorüber, und mit vielfacher Freude werden wir uns wieder sehen.

Nicht ohne Thränen machte ihm die liebenswürdige Frau die zärtlichsten Vorwürfe, versicherte: daß sie ohne ihn keine fröhliche Stunde hinbringen werde, und bat ihn nur, da sie ihn weder halten könne noch einschränken wolle, daß er ihrer auch in der Abwesenheit zum Besten gedenken möge.

Nachdem er darauf verschiedenes mit ihr über einige Geschäfte und häusliche Angelegenheiten gesprochen, sagte er nach einer kleinen Pause: ich habe nun noch etwas auf dem Herzen, davon Du mir frey zu reden erlauben mußt, nur bitte ich Dich aufs herzlichste nicht, zu mißdeuten was ich sage, sondern auch selbst in dieser Besorgniß meine Liebe zu erkennen.

Ich kann es errathen, versetzte die Schöne darauf, Du bist um meinetwegen besorgt, indem Du nach Art der Männer unser Geschlecht ein für allemal für schwach hältst. Du hast mich bisher jung und froh gekannt, und nun glaubst Du, daß ich in Deiner Abwesenheit leichtsinnig und verführbar seyn werde. Ich schelte diese Sinnesart nicht, denn sie ist bey euch Männern gewöhnlich; aber wie ich mein Herz kenne, darf ich Dir versichern, daß nichts so leicht Eindruck auf mich machen, und kein möglicher Eindruck so tief wirken soll, um mich von dem Wege abzuleiten, auf dem ich bisher an der Hand der Liebe und Pflicht hinwandelte. Sey ohne Sorgen, Du sollst deine Frau so zärtlich und treu bey Deiner Rückkunft wieder finden, als Du sie Abends fandest, wenn Du nach einer kleinen Adwesenheit in meine Arme zurückkehrtest.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/58&oldid=- (Version vom 1.8.2018)