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Pordenone trat einen Schritt vor, und Tizian streckte anmuthig mit einer rednerischen Bewegung die Hand aus.

– Ihr wollt lügen! sagte der Richter rauh. Hütet Euch. Sollen Beppo und Anselmo, die Gondolieri, erscheinen?

Tizian ließ beschämt die Hand sinken, Pordenone das herausfordernd emporgehobene Haupt, und sah ziemlich ängstlich den Genossen an. Beide mußten beichten. Als dies aber geschehen war, gestanden sie, gewiß aus Herzensgrunde, daß diese nächtliche Reise zum Dogenpalaste auf immer ihrer Feindschaft ein Ende gemacht habe, und daß sie nie wieder in die Versuchung kommen würden, andere Waffen als ihre Pinsel und Paletten gegen einander zu gebrauchen; eine Versicherung, die sie durch feierlichen Handschlag bekräftigen mußten.

– Jünglinge! sagte dann der zweite Richter, welcher bis dahin geschwiegen hatte, mit hohem Tone und einer Stimme, die Tizian als diejenige des Dogen zu erkennen meinte. Ihr habt im Begriff gestanden, gegen die Republik ein schweres Verbrechen zu unternehmen. Ihr wolltet in Eurer Verblendung das Recht des Staats auf das Leben seiner Bürger nicht nur, sondern auf das Leben solcher Bürger zu Boden schleudern, die vor tausend Andern berufen sind, den Ruhm und die Bildung Venedigs aufrecht zu erhalten. Ein solches Beginnen muß gesühnt werden. Ich fordere daher von Dir, Vecellio, und von Dir, Pordenone, innerhalb eines Jahres ein Gemälde, in Bezug auf welches Ihr zu erklären habt, daß Ihr alle Euch zu Gebote stehenden Kräfte darauf verwandtet.

– Ah! rief Pordenone mit freudigem Ausdruck seiner offenen Züge; edler Herr, Ihr wollt uns strafen und macht uns glücklich. Die „Mutter“, die große Republik verlangt von mir ein Meisterwerk? Und innerhalb eines Jahres? In einem Monate ist’s beendet, oder meine Hand wird nie wieder den Pinsel berühren.

– Du bist zu schnell, Giovanni! bemerkte Tizian, ebenso entzückt als sein Nebenbuhler. Wie, wenn von uns Gemälde von bedeutenden Verhältnissen und reicher Composition gefordert würden?

– Ich verlange nur zwei Figuren und dazu nur Kniestücke! sagte der, welchen Tizian den Dogen glaubte.

– Befehlt Ihr, hoher Herr, auch einen besonderen Vorwurf? wagte Tizian zu fragen.

– Nein! aber die eine Figur muß Christus, den Hochgebenedeiten, darstellen.

Die Richter erhoben sich bei diesem Namen ehrerbietig, winkten dann den Jünglingen, näher an die lange Tafel zu treten, und reichten ihnen zum Zeichen der Entlassung die Hände, welche Pordenone kräftiger schüttelte, als die morschen Finger der Alten ertragen mochten.

Arm in Arm verließen die Maler den Palast, und setzten ihre beiderseitigen Freunde, welche sie ungeachtet der frühen Stunde in einem Weinhause versammelten, um die ausgestandene Angst durch Montefiasconer und Falerner vergessen zu machen, durch diese wahre Brüderlichkeit in nicht geringes Erstaunen. Schon am andern Tage begannen die Meister ihre Entwürfe und nach drei Wochen hatte Tizian, nach fünf Wochen Pordenone sein Gemälde vollendet. Bis dahin hatte keiner der Maler das Bild des andern gesehen. Es war ein feierlicher, für die jungen Meister höchst inhaltreicher Augenblick, als in Tizians Zimmer die Gemälde neben einander aufgestellt

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/323&oldid=- (Version vom 1.8.2018)