Seite:Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie.pdf/753

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Prachtwerk empfing, nicht zu gedenken. Der Kopf des Judas Ischariothes soll dem Pater Guardian des Klosters, welcher dem Maler seinen Lohn verkümmerte, angehört haben. Wer hätte nicht da Vinci’s Abendmahl bewundert, wo Christus, die liebevolle Ergebung auf dem göttlichen Antlitze, zu seinen Jüngern spricht: Wahrlich, einer unter Euch wird mich verrathen; des Menschen Sohn geht dahin, wie geschrieben steht, aber wehe dem Menschen, durch den er verrathen wird! Dies Bild, mit einer idealen Charakteristik der Köpfe, wie sie selten oder nie ein einziges Meisterbild zeigt, mit diesen bewegten Mienen und Stellungen, womit die Jünger fragen: Bin ich’s? Der beste Stich nach diesem Werke ward von Raphael Morghen geliefert, und dieser hat so viele Nachbildungen erfahren, daß man ohne Uebertreibung sagen darf, die ganze Christenheit kennt das Abendmahl aus dem Refectorio der Dominicaner von Mailand. Raphael Sanzio’s sixtinische Madonna kann sich bei Weitem nicht einer ähnlichen Verbreitung rühmen.

Bald aber hörte Mailand, von dem hellen Kriegsfeuer umgeben, und im Jahre 1499 unter großem Blutvergießen erobert, auf, ein Sitz für ruhige Kunstausübung zu sein. Leonardo wanderte nach Florenz zurück. Hier zeigte er, daß sein Genie an Mächtigkeit dem des jungen Buonarotti’s nichts nachgab, obwohl da Vinci diesem Titanen an Grazie und tief gemüthlichem Reiz weit überlegen war. Es war Niccolo Piccinim’s Sieg mit den Florentinern, den da Vinci malte und – obgleich Gemälde und Carton wie gewöhnlich bei Leonardo – verloren sind, so besitzen wir doch noch in einem später von Edelink gestochenen Blatte eine einzige Reitergruppe aus diesem Stücke, die in ihrer Unübertrefflichkeit uns ahnen läßt, was die Kunst beim Untergang jener Schöpfung verlor. Noch immer jedoch sind außer dem Abendmahl Werke genug vorhanden, welche den Ruhm da Vinci’s beweisen. So das Portrait Sforza’s, welches wir hier geben; Johannes der Täufer, in der französischen Nationalgallerie – wenigstens besaß es diese noch 1813 –; eine Leda, Eigenthum der Kaunitz’schen Gemäldesammlung in Wien; ferner ein Portrait eines schönen Weibes, La Gioconda genannt; ein Carton zu Ehren der Santa Anna und die heiligen drei Könige, letzteres Bild in Florenz befindlich. Auch besitzt Rom in der Gallerie di Sciarra eine Vanitas und Modestia oder Pietas und in London bewahrt die Nationalgallerie einen Christus mit den Schriftgelehrten. In Frankreich besitzt die Nation eine Vierge aux rochers von da Vinci’s Hand. Der Meister arbeitete von 1513 in Rom, wo er die größte Gunst des Papstes, Leo X., genoß; später in Paris, als Freund des ritterlichen Königs Franz, wo er im Jahre 1519 plötzlich im 67. Jahre seines Alters starb.

Leonardo ist ein Künstler ersten Ranges, dessen wunderbare Begabung nur zum allergeringsten Theile durch seine Werke wiedergegeben wurde. Sein Geist war eben so kraftvoll, als subtil, seine Phantasie so mächtig und schwungreich, als anmuthig und zart; seine Empfindung ist stets edel und groß, und seine künstlerische Schwärmerei hatte ein Ideal von göttlicher Schönheit vor Augen. Dennoch ward dieses Ideal nie unwirklich, denn schwerlich möchte es einen durchgeistigteren Naturalismus geben, als denjenigen, welchen wir in da Vinci’s Werken nachweisen können. Ein ganz eigenthümlicher Zug dieses Malers war, daß er sich nie Genüge leisten konnte, weshalb er sich meistens lange vor der Vollendung von seinen Werken abwandte und sie seinen Schülern überließ, welche sie ausmalen, gut machen oder verderben konnten, ohne daß da Vinci je dieser Stücke mit einem Worte erwähnte. Diesem Genius ist in seinen Werken auch nicht eine einzige Schwäche, ein Fehler, eine schiefe Richtung u. s. w. vorzuwerfen; er ist einzig, unvergleichlich.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 736. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/753&oldid=- (Version vom 1.8.2018)