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Slingeland nur dann etwa falsch blies, wenn seine Augen über das Notenbuch schweiften, um Tact, Thema und Variationen aus Mariens braunen Augensternen zu lesen.

War Nederhout zu beschäftigt, so übernahm Marie den Unterricht des Schülers. Namentlich diese Unterweisung förderte die Wissenschaft des Jüngers der Musik bedeutend. Einige Monate waren schon verflossen, da entschied endlich der einigermaßen gefügig gewordene Nederhout, daß er mit Slingeland eine General-Probe über seine musikalische Tüchtigkeit anstellen werde. Er wollte seine Forderungen an den Flötenblaser so niedrig wie möglich stellen; aber er bemerkte, daß dies Niedrigste der tadellose Vortrag einer ausgezeichneten italienischen Sonate, sammt der Aufführung des Concerts vom Maëstro Nederhout sein werde. Das erste Stück sollte Slingeland solo blasen, das zweite und dritte mit dem Meister und mit Marien executiren. Die fließenden italienischen Melodien capirte Slingeland sehr bald. Das Concert von Nederhout brachte ihn aber fast um den Verstand. Er glaubte sich verhext, bezaubert; es war unmöglich, daß er nur den Tact dieses Musikstückes, des Meisterwerkes des Niederländers, in welchem derselbe alle möglichen Schwierigkeiten und Künsteleien und Verschrobenheiten gehäuft hatte, inne bekommen konnte. Nederhout verordnete tägliche strenge Probe. Aber er ward krank, dieser schreckliche musikalische Quälgeist; die Sache wurde in soweit erträglicher, als Marie jetzt ausschließlich sich mit dem Einstudiren Slingelands beschäftigte. Der Maler überwand auch dasmal. Das Concert konnte er blasen. Zum ersten Male wirbelten, als er neben Marien saß, welche ihre Violine meisterhaft handhabte, aus der lächerlich kleinen Pfeife die eigensinnig verschlungenen Töne klar und hell und ohne Anstoß hervor. Der Musiker lag oben im Bette. Er hatte bisher jeden falschen Ton des Schülers anhören müssen, gern angehört, denn er konnte doch jetzt, im Bewußtsein seiner Ueberlegenheit fluchen: Meine Musik so zu verhunzen! Meine genialste Stelle ganz falsch vorzutragen! – Jetzt aber, als sein Concert, von den beiden Instrumenten aufgeführt ertönte, machte sich Mynheer Nederhout auf die Beine, zog den Schlafrock an und marschirte in Strümpfen die Treppe hinunter.

Eben kam er an der Thür an, als das Finale erklang.

– Brav! Sehr brav! murmelte er entzückt, mit geschlossenen Augen und gefalteten Händen.

So stand er noch, als plötzlich eine eigenthümliche Conversation ihn aus allen seinen Himmeln riß. Slingeland machte nämlich nach der letzten Note einen Sprung hoch in die Höhe, zwang Marie, ihre Geige auf den einen Stuhl zu stellen und umarmte sie stürmisch, indeß er seine Flöte in der einen Hand fast ausgelassen um den Kopf schwenkte.

– Hurrah! Endlich überwunden! Du bist die Meinige, Marie! Mädchen, schrei doch, jauchze doch, gleich mir! Er drehte sich auf dem Absatze herum, verlor die Balance und hätte fast den kleinen Bologneserhund Mariens aus Versehen todtgetreten. Sie raffte ihn auf, nahm ihn auf den Arm und setzte sich auf den einen Stuhl.

– Aber sei doch nicht so ungeheuer ausgelassen! flötete sie, selbst entzückt über das Ende ihrer Prüfungszeit.

– Kann ich denn anders! Diese musikalische Hölle ist zu Ende! O, was hat Pieter Slingeland um Dich, Mädchen erlitten! Glaube nur, bei dieser letzten Qual, bei Mynheer Nederhouts Concertino ist mir wahrhaft der Verstand stehengeblieben. Es ist ein förmliches

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 784. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/801&oldid=- (Version vom 1.8.2018)