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geht mithin den inneren Menschen an. Durch die Gesinnung beweisen wir, ob wir sittliches Empfinden besitzen; die Äußerungen unsrer Gesinnung, unser Tun und Lassen, sind der Gradmesser unserer Sittlichkeit. Unser Benehmen dagegen ist der Gradmesser unserer Kulturhöhe.

Da wir einmal dabei sind, uns gewisse Begriffe und Bezeichnungen, die mit zu unserem Thema „Wie benehme ich mich?“ gehören, klar zu machen, soll hier auch gleich die verwandte Frage erledigt werden: Was ist Takt oder Taktgefühl?

Takt ist kurz gesagt die Fähigkeit, in jeder gegebenen Lage sein Verhalten so einzurichten, daß es sowohl den allgemeinen Regeln der Sittlichkeit als auch den feineren, nicht auf Regeln zurückzuführenden Forderungen einer gefühlsmäßigen Rücksichtnahme auf unsere Mitmenschen genügt.

Takt läßt sich nicht anerziehen. Er ist stets der Ausfluß eines fein entwickelten Gefühllebens. Er beruht auf natürlicher Anlage, die durch Erziehung und Vorbild nur erweitert werden kann.

Wir sehen hier also ganz klar den Unterschied zwischen Anstand und Taktgefühl. Ersterer kann anerzogen werden; jeder, der nur das ernste Streben hat, ihn sich anzueignen, wird dies auch erreichen können. Takt muß eine gütige Fee uns mit in die Wiege legen als köstliches Geschenk. Wem Taktgefühl nicht angeboren ist, wird es sich nie anerziehen! Wer es besitzt, vermag leichter als jeder andere sich in den vielfachen Regeln des „guten Tones“ zurechtzufinden; ihm hilft eben die natürliche Anlage, das Rechte zu treffen.

Taktgefühl ist also auch vollständig unabhängig vom Bildungsgrade des Einzelnen. Der gelehrteste Mann kann durch Taktlosigkeiten „ungebildet“ wirken, da; gegen kann der einfachste Proletarier gerade durch den Takt in seinem Verhalten sich Achtung und Zuneigung unschwer erwerben. Der Millionär, der seine Wohltätigkeit[1] vor den Augen aller übt, mit seinem „guten Herzen“ protzt, ist taktlos; der Arbeiter, der einem kranken Kollegen heimlich Geld zusteckt, steht hoch über ihm. –


  1. Vorlage: Wohttätigkeit
Empfohlene Zitierweise:
W. von Neuhof: Wie benehme ich mich?. Verlag moderner Lektüre G.m.b.H., Berlin 1921, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wie_benehme_ich_mich.pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)