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Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Darum laßt uns alle fragen, ob wir denn im Weinberge sind und arbeiten? Und wenn wir Faullenzer sind am Lebensmarkte, dann wollen wir rufen und schreien, bis uns der HErr hört und Sein miethender Ruf uns die Pforte zu Seinem Weinberge öffnet.

 Eine zweite Bemerkung, lieben Brüder, verschmähet nicht.

 Letzte, die die Ersten werden, sind ganz offenbar Arbeiter, die nicht lange, vielleicht erst gegen das Lebensende hin, zur elften Stunde in den Weinberg eingetreten sind, aber am Ende durch die Gnade des HErrn den ganz gleichen Lohn empfangen, über welchen Er mit Denen eins geworden ist, welche die Last des Tages und die Hitze getragen haben. Der HErr kann aus Gnaden treuen Arbeitern, auch wenn ihre Arbeitszeit kurz war, denselben Gnadenlohn reichen, welchen Er den Tagelöhnern und Arbeitern der ganzen langen Tage aus Gnaden verheißen, ja vertragsmäßig zugesagt hat. Er sieht auf Treue und gibt den Treuen, die Er kennt, was Er will. – Wie ist es nun aber mit dem Worte, welches das ganze Gleichnis beschließt: „So werden die Letzten Erste und die Ersten Letzte sein, denn viele sind berufen, wenige aber auserwählt.“ Nicht die Frage ist schwer zu lösen: „Welche sind die Berufenen“? Berufen sind sie alle. Aber welche sind denn die Auserwählten? Sind die Letzten, weil sie Letzte sind, auserwählt? Gewis undenkbar. Sind die Ersten, weil sie Erste sind und des Tages Last und die Hitze getragen haben, auserwählt? Gewis noch weniger denkbar. Dennoch aber scheinen die Letzten die Auserwählten zu sein, die Ersten aber nicht auserwählt. Sie arbeiten beide, sie empfangen beide den Lohn, und zwar denselben, den völlig gleichen Lohn. Es wird auch keineswegs gesagt, daß die einen weniger treu gewesen seien als die andern. Am Ende macht also weder die Arbeitszeit, die längere oder kürzere, noch der Lohn, den die nicht Auserwählten bekommen wie die andern, noch die Treue in der Arbeit auserwählt. So sage mir einer, was auserwählt macht? Die Ersten im Gleichnisse sind nicht auserwählt trotz Arbeit und Lohn, warum nicht? Ist keine Spur vorhanden von dem Grunde? Sie sind unmuthig, daß sie nicht mehr bekommen, als die Letzten, sie sprechen den Unmuth aus; da die Letzten aus Gnaden bekommen, was ihnen vertragsmäßig zugesagt ist, hätten sie auch eine Zulage erwartet aus dem Reichtum derselben Gnade. Sie scheinen vergeßen zu haben, daß ihr Lohn immerhin schon Gnade, daß ihre Arbeit des Lohnes nicht werth ist; sie betonen vom Worte Gnaden-Lohn statt den ersten Theil den zweiten – und haben kein in Gott zufriedenes und vergnügtes Herz. Dadurch, sonst könnte ich mir nichts anderes denken, verlieren sie die Wahl. Oder wenn sie nicht so neidisch und unmuthig gewesen, wenn sie nach voller Tageslast und Hitze in Demuth zufrieden und vergnügt gewesen wären und sich gefreut hätten, daß auch die Arbeiter der letzten Nachmittagsstunde den Lohn bekommen: würde man sie dann für nicht auserwählt halten können, ohne auf die grauenvollen Irrwege der Prädestinatianer zu kommen? Daraus erklärt sich dann auch, was die Letzten nicht bloß den Ersten gleich, sondern auserwählt gemacht haben muß. Sie müßen erkannt haben, daß sie durch Gnade belohnt wurden; gebeugt, anbetend müßen sie den frommen Gott gelobt haben, der die Armen reich und die Gottlosen gerecht macht. Was also macht auserwählt? Was ist das Zeichen der Auserwählten? Demüthige Ergreifung der Gnade in allen Dingen, auch im Lohne. Es mußten Arbeiter sein, treue, die auserwählt werden sollen, aber sie müßen unter keinen Umständen auf ihre Arbeit, sondern nur auf Gottes Gnade sehen. So stimmt dann alles auch mit Matth. 22, 14 zusammen, wo auch nur die auserwählt sind, welche nicht ihr eignes Kleid beim Hochzeitmahle tragen wollen, sondern das der Gerechtigkeit Christi. Ist das richtig, so ist Lohn und Wahl zweierlei. Die Wahl ist unter den Arbeitern, aber nicht alle Arbeiter werden auserwählt, wenn auch alle gelohnt. Daraus folgt allerlei, was, so weit es richtig geschloßen und in den Grenzen anderer Bibelstellen geht, nicht abzuleugnen ist. Aber kann man die Sache anders nehmen?

 Wohlan, so arbeite, was du kannst, wie viel, wie lang, wie treu du kannst, – und dann, wenn’s Abend wird, leg dein Arbeitszeug aus der Hand und dem Gedächtnis, und stirb auf Gnade!


Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Epistel-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1858, Seite 335. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Epistel-Postille.pdf/343&oldid=- (Version vom 1.8.2018)