Selbstmord ganz vergeblich

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Textdaten
Autor: Lili Grün
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Titel: Selbstmord ganz vergeblich
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aus: Der Wiener Tag, 12. Jg., Nr. 3525 (11. März 1933), S. 6
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1933
Verlag: Der Tag Verlag A. G.
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: ÖNB-ANNO
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Selbstmord ganz vergeblich
Von Lili Grün

     Lisl war ungefähr fünfzehn Jahre alt, aber das Leben freute sie nicht mehr. Sie wollte sterben. Sterbenwollen, das war ein Würgen in der Kehle von verhaltenen Tränen, war ein naßgeweintes Kopfkissen und der tausendmal gedachte Weg zur Hausapotheke. Lisl wußte, wo in der Hausapotheke das Veronal liegt, das wollte sie klauen und damit ihrem unnützen Dasein ein Ende bereiten. Schuld, ganz eigentlich schuld hatte der große Bruder. Diese Bande überhaupt. Da waren die älteren Schwestern, die die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, deren plötzliches und anhaltendes Gelächter ebenso unverständlich war, wie alles übrige, was sie taten und verheimlichten. Es schien, als ob der liebe Gott diese Geschwister zur Geißel für kleine, liebebedürftige, fünfzehnjährige Mädchen erschaffen hätte. War es daher so ein Wunder, wenn man eines Tages auf die geschmacklose Idee kam, Tagebuch zu schreiben, wenn man unter dieser herzlosen Gesellschaft leben mußte, die nichts ernst nahm als sich selbst. Es ist eine Gemeinheit, fremde Tagebücher zu lesen, verehrter Herr Bruder, wenn ich jetzt momentan nicht mal rasch sterben müßte, würde ich Ihnen zu Weihnachten einen Knigge schenken. Aber so habe ich keine Zeit. Bedauere lebhaft …

     Lisl stand langsam auf, um das Veronal zu holen. Das Tagebuch wird verbrannt, überlegte sie weiter. Es hat mit mir gelebt, es soll mit mir sterben. Abschiedsbrief wird keiner geschrieben. An wen soll man schreiben? Menschen, die fremde Tagebücher lesen und sich dann noch darüber lustig machen, verdienen keine Abschiedsbriefe.

     Lisl verbrannte ihr Tagebuch und wollte sterben. Sie wollte wirklich und wahrhaftig sterben. Kein Mensch konnte so recht sagen, wieso sie gerettet wurde. Ob zu wenig Veronal zu Hause war, ob irgend jemand ihren tiefen Schlaf rechtzeitig bemerkt hatte, kurzum, Lisl wurde gerettet. Sie fand sich mit vollem Bewußtsein in ihrem Zimmer mit den weißen Möbeln. Sie wunderte sich ein wenig, denn sie hatte sich das Totsein ein wenig anders vorgestellt.

     Erst als der große Bruder das Zimmer betrat und sagte: „Na, ich glaube, jetzt kann man doch wohl schon ein paar vernünftige Worte mit dir sprechen“, begriff sie langsam, was geschehen war, lächelte selig und wartete. Wartete auf die ersehnten, seit zehn Jahren ersehnten Worte des großen Bruders. Jetzt würde er gleich sagen, daß man die Kleine immer unterschätzt hatte, daß sie ein lieber, armer Mensch sei, den man nicht nur lieben, sondern auch durchaus ernst nehmen müsse. Und nach einiger Zeit würde man einander in die Arme fallen und das Leben würde so schön sein wie noch nie.

     Der große Bruder rückte sich einen Stuhl zurecht und begann mit ernster Miene: „Was glaubst du eigentlich, wem hast du denn imponieren wollen mit diesem Affentheater … ein Skandal ist es! Jawohl, ein Skandal! Das ganze Haus spricht davon. Man munkelt von einer Liebesgeschichte … Unerhört so etwas! So und jetzt mußt du mir in die Hand versprechen, daß du von heute an ein vernünftiges Mädl sein willst und mit allem[WS 1] Unsinn endgültig Schluß machen, dann ist alles vergeben und vergessen.“

     Der große Bruder sprach und sprach eine halbe Stunde, dann stand er auf, küßte Lisl auf die Stirn und ging. Die weiße Tür fiel hinter ihm ins Schloß und Lisl sah ihm nach und konnte nicht fassen, daß sie ganz vergeblich gestorben war.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: allen