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Über Gemüthsbildung

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Textdaten
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Titel: Über Gemüthsbildung
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 419
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[419] Ueber Gemüthsbildung. Auch mißgünstige Nachbarn räumen unserem deutschen Volke Tiefe des Gemüthes ein, und wer daran zweifeln möchte, den würden die deutschen Volkslieder aller Zeiten und unsere ganze Litteratur eines besseren belehren müssen. Der rastlose Drang, die Unruhe, das hastige Vorwärtsstreben unserer Gegenwart rückt indeß die Gefahr nahe, daß unser Gemüthsleben verkümmert werden könnte, und es ist begreiflich, daß sich Stimmen erheben, welche ein Hinwirken auf die Bildung des Gemüthes für nöthig halten.

Friedrich Kirchner hat in einer kleinen Schrift diese Frage angeregt. Er spricht darin von verschiedenen Arten des Gemüthes. Ein flaches Gemüth hat derjenige, welcher für höhere Interessen wenig Sinn hat, sich wohl über dies und jenes freut, aber für nichts begeistert. Ein tiefes Gemüth zeichnet sich durch Sammlung aus; durch jedes Ereigniß wird es daher bis in seine Grundfesten erschüttert. Lust und Leid klingen länger in ihm nach, denn sie werden mit allem sonst Erlebten in Beziehung gebracht. Ein kindlich Gemüth hat der einfache, reine Mensch, der die Verhältnisse, Personen und Sachen wie ein Kind auffaßt. Ein edles Gemüth adelt alles um sich her, auch das Gemeine: ein großes Gemüth zeigt sich groß im Handeln wie im Dulden: beide Male wird es getrieben von dem Drange, sich groß, das heißt bewundernswerth zu zeigen. Ueber die Bedeutung des Wortes „gemüthlich“ gehen die Ansichten wieder aus einander. Wir kannten einen namhaften Dichter und Denker, welcher Gemüthlichkeit für die Gabe erklärte, sich durch jede Lumperei befriedigt zu fühlen. Kirchner meint, man nenne eine Person oder Sache gemüthlich, welche durch eine gewisse Anmuth einen Hauch von Behaglichkeit um sich verbreitet, also unser Gemüth anspricht. Ein gemüthlicher Mensch wird durch Scherz und Ernst angeregt; weil er auf alles eingeht, läßt sich’s angenehm mit ihm verkehren. Ungemüthlich sind die Leute, bei denen Verstand, Wille oder Geschäftigkeit das Gefühlsleben ertödtet haben, pedantische Gelehrte, zudringliche Fanatiker und rastlose Geschäftsleute.

Die erste Aufgabe der Gemüthsbildung soll nach Kirchner darin bestehen, dem Gemüth eine vorwiegend heitere Grundstimmung zu geben, das heißt, Mischung von Frohsinn und Gleichmuth. Daraufhin soll die leibliche und geistige Erziehung wirken. Allerdings läßt sich der Einwand nicht widerlegen, daß Stimmungen vom Temperament und von der Konstitution abhängig sind und daß dagegen weder gymnastische Uebungen, noch veredelnde Seelenbildung durchgreifend zu wirken vermögen. Die Wirkung der Künste, der Musik, der Dichtkunst sind auch der schönen Natur auf das Gemüth ist eine unbestreitbare, aber das Hauptgewicht wird mit Recht auf das Familienleben gelegt. Die Familienfeste, die Liebe zu den Eltern und Kindern, die Anhänglichkeit an die Verwandten, die Pietät gegen Personen und Sachen, Sitten und Bräuche, das Vorbild der Eltern, die sich dem Wohle aller widmen, das nährt den Famillensinn und kräftigt das Gemüthsleben.

Vieles kann den Menschen anerzogen werden, aber für vieles ist ihm auch die Anlage angeboren. Das gilt besonders für unsere Theilnahme an dem Geschick anderer. „Neben dem selbstischen Triebe entsteht zugleich das Mitgefühl. Aber Vorbild, Belehrung, Lektüre und Entfesselung der Phantasie sind hier wichtige Hilfsmittel. Mitleid mit Armen und Kranken, unterdrückten und Geknechteten, mit Bekümmerten aller Art, Mitleid auch mit den Thieren: wer diese himmlische Tugend ins Herz der Kinder pflanzt, der bereitet ihnen für die Zukunft ein Kapital, welches reiche Zinsen selbstloser Liebe trägt.“

Gewiß ist der Kampf gegen Verflachung des Gemüthes in engen und weiten Kreisen durchzukämpfen. Wer dem deutschen Volke seine Gemüthstiefe raubt, der verpflanzt es aus den Zaubergärten, in denen die schönsten Früchte unserer großen Geister reifen, in eine Wüstenei, in welcher nur der Wirbelwind der Gewinnsucht, der egoistischen Bestrebungen, des rohen und raffinirten Kampfes ums Dasein den Staub aufjagt, der die schönsten Denkmäler der Vergangenheit begräbt. †