Über die verschiedenen Stufen der Erkenntniß und des Glaubens

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Autor: Isaak von Ninive
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Titel: Über die verschiedenen Stufen der Erkenntniß und des Glaubens
Untertitel:
aus: Bibliothek der Kirchenväter, Band 38, S. 396–399.
Herausgeber: Gustav Bickell
Auflage: 1
Entstehungsdatum: 7. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Jos. Koesel’sche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Kempten
Übersetzer: Gustav Bickell
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Ueber die verschiedenen Stufen der Erkenntniß und des Glaubens.




Es gibt eine Erkenntniß, welche dem Glauben vorhergeht, und eine Erkenntniß, welche aus dem Glauben entspringt. Die dem Glauben vorhergehende Erkenntniß ist die natürliche, die aus dem Glauben entspringende die geistliche.

Was ist die natürliche Erkenntniß? Sie ist die das Gute vom Bösen unterscheidende Erkenntniß, welche auch natürliche Urtheilskraft genannt wird und von Gott in die vernünftige Natur gelegt ist, damit sie von selbst auch ohne Belehrung das Gute und Böse erkenne; aber durch die Belehrung wird sie erhöht.

Es gibt Niemanden, in dem sich diese nicht rege, da sie die der vernünftigen Seele wesentliche Erkenntnißkraft ist, in welcher unaufhörlich die Unterscheidung zwischen Gutem und Bösem zum Vorschein kommt. Diejenigen, welche derselben entbehren, stehen unterhalb der Stufe der Vernunft. Diejenigen aber, bei welchen sie sich findet, befinden sich in der richtigen Ordnung der beseelten Wesen, indem Das in ihnen nicht zerstört ist, was Gott der Natur zur Ehre ihrer Vernünftigkeit verliehen hat.

Diejenigen, welche diese das Gute vom Bösen unterscheidende [397] Erkenntniß verloren haben, tadelt der Prophet[1] mit den Worten: „Der Mensch, als er in seiner Ehre war, hat es nicht erkannt.“ Die Ehre der vernünftigen Wesen ist die das Gute vom Bösen unterscheidende Urtheilskraft. Mit Recht werden also Diejenigen, welche sie verloren haben, mit dem Thiere verglichen, das keine unterscheidende und vernünftige Seele besitzt.

Durch sie sind wir befähigt, den Weg zu Gott zu finden, und Dieß ist die natürliche Erkenntniß, welche dem Glauben vorhergeht und der Weg zu Gott ist.

Denn eben dadurch empfängt der Mensch den Glauben, daß er das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht, indem die Kraft der Natur bezeugt, es gezieme sich, daß man an Den glaube, welcher alles Dieses in’s Dasein gebracht hat, und daß man die von Ihm ausgesprochenen Gebote für zuverlässig halte und ausübe.

Aus dem Glauben entsteht die Furcht Gottes. Wenn man alsdann diese auszuüben beginnt und in ihrer Ausübung einige Fortschritte gemacht hat, so entsteht daraus die geistliche Erkenntniß, von welcher wir vorher sagten, daß sie vom Glauben erzeugt werde.

Nicht als ob sie unmittelbar aus dem Glauben hervorginge; denn von dem bloßen Glauben allein wird die geistliche Erkenntniß nicht erzeugt; sondern aus dem Glauben geht die Furcht Gottes hervor; wenn wir alsdann beginnen, die Furcht Gottes auszuüben, so entsteht die geistliche Erkenntniß aus dieser Übung der Gottesfurcht, wie der hl. Johannes (Chrysostomus) sagt: „Wenn der Mensch den der Furcht Gottes und der geraden Gesinnung gemäßen Willen hat, so empfängt er leicht die Offenbarung der Geheimnisse.“

Unter der Offenbarung der Geheimnisse versteht er hier die geistliche Erkenntniß. Nicht als ob dieselbe von [398] der Gottesfurcht erzeugt würde, denn Dasjenige, was nicht in der Natur liegt, kann nicht erzeugt werden; sondern die Erkenntniß wird der Ausübung der Gottesfurcht als Gnadengabe verliehen.

Wenn du aber die Ausübung der Gottesfurcht genau untersuchst, so findest du, daß sie die Buße ist. Und die auf sie folgende Erkenntniß ist Dasjenige, von dem wir gesagt haben, daß wir sein Unterpfand in der Taufe empfangen haben, seine Verleihung aber durch die Buße erhalten. Die eben erwähnte Verleihung, welche wir durch die Buße empfangen, ist die Erkenntniß des Geistes, welche als Gabe für die Ausübung der Gottesfurcht geschenkt wird.

Die geistliche Erkenntniß ist eine Empfindung der verborgenen Dinge. Wenn aber der Mensch jene unsichtbaren und sehr erhabenen Dinge empfindet, wegen deren diese Erkenntniß den Beinamen der Geistigkeit erhält, so wird aus dieser Empfindung ein anderer Glaube geboren, welcher dem ersten nicht entgegengesetzt ist, sondern ihn vielmehr bestätigt.

Man nennt ihn Glauben des Schauens. Bis dahin beruhte er auf dem Hören, jetzt aber auf dem Sehen; und das Sehen ist zuverlässiger als das Hören.

Alle diese Dinge werden aus jener das Gute vom Bösen unterscheidenden Erkenntniß geboren, welche aus unserer Natur hervorgeht und, wie gesagt, der Same der Tugend ist. Wenn wir sie aber durch unseren die Lüste liebenden Willen unterdrücken, so werden wir aller jener Güter verlustig.

Auf diese Erkenntniß folgt der unvertilgbare Stachel des Gewissens, die stete Erinnerung an den Tod, das qualvolle Nachdenken über diesen Hinübergang, Kummer und Trauer, Gottesfurcht und aus der Natur entspringende Beschämung, Schmerz über die früheren Übertretungen, Streben nach dem Geziemenden, Gedenken an den gemeinsamen Weg, Sorge für die auf demselben nothwendigen Reisevorräthe, schmerzerfülltes Flehen zu Gott um glücklichen [399] Eingang in jenes Thor, durch welches jede Kreatur hindurchziehen muß, Verachtung der Welt und eifriges Ringen nach der Tugend.

Alle diese Dinge werden durch jene natürliche Erkenntniß gefunden. Der Mensch prüfe also seinen Wandel an ihnen! Wenn sie an ihm vorhanden sind, so wandelt er auf dem Wege der Natur.

Wenn er sich aber über dieselben erhoben hat und zu der Liebe gelangt ist, so hat er sich auch über die Natur erhoben, und Kampf, Furcht und Ermüdung sind von ihm gewichen.[2]

Mit dem eben Gesagten möge ein Jeder seinen eigenen Seelenzustand vergleichen, um zu erfahren, auf welchem Wege er wandelt, ob unter oder über der Natur!

Aus den vorher deutlich angegebenen Bestimmungen kann der Mensch leicht seinen ganzen Lebenswandel beurtheilen. Wenn du dich nicht in den eben beschriebenen Kennzeichen der Natur befindest, auch nicht in denen des übernatürlichen Lebens, so ist es klar, daß du unter die Natur hinabgeworfen bist.

(Aus Zingerle, Monumenta syriaca, S. 97—99; vgl. die griechische Uebersetzung, S. 92—96.)

Anmerkungen

  1. Psalm 48, 13.
  2. Die griechische Übersetzung hat hier folgenden, offenbar auf einer Glosse beruhenden Zusatz: „Diese Dinge folgen auf die natürliche Erkenntniß und finden sich in uns, wenn wir sie nicht durch unseren die Lüste liebenden Willen unterdrücken. Wir bleiben aber so lange in ihnen, bis wir zu der Liebe gelangen, welche uns von allem Diesem befreit.“