„Der alte Feldherr“ in Solothurn

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Rudolph Oskar Ziegler
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: „Der alte Feldherr“ in Solothurn
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 10–15
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
vergl. Berichtigung: Kosciuszko
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[10]

„Der alte Feldherr“ in Solothurn.

Nach Mittheilungen eines Zeitgenossen.

In Zuchwil, eine Viertelstunde von Solothurn, der Hauptstadt des gleichnamigen Schweizer-Cantons, liegt ein stiller Dorfkirchhof, zu dessen Besuch ich heute die Leser der Gartenlaube einladen möchte. Nicht als ob es einer jener herrlichen Friedhöfe wäre wie der Père Lachaise in Paris oder die Friedhöfe von Berlin, Frankfurt, München u. dgl., wo wir in einem Pompeji der herrlichsten Grabmäler wandeln und ob all’ der monumentalen Pracht vergessen, daß der Fuß über ein Leichenfeld wegschreitet; oder als ob er gar mit einem der classischen Campi santi von Italien wetteifern könnte, wo der ewig blaue Himmel und der Reflex des Meeres selbst den düstern Schatten der Cypressen zu mildern vermögen. Ein einfaches Kirchlein, auf allen Seiten von Gräbern umgeben, die mit Buchs eingefaßt und mit wilden Nelken geschmückt sind, ein paar Trauerweiden und Ulmen, eine niedrige Mauer als Einfriedung und rings herum üppige Obstbäume und patriarchalische Strohdächer, die grüßend gegen die Stätte des Todes sich hinneigen – das ist der Gottesacker von Zuchwil! An der innern Seite der Einfassungsmauer aber erhebt sich ein hohes Grabmal aus Jurakalk, das die einfache Unterschrift trägt: Viscera Thaddei Kosciuszko. Und unter diesem Denksteine ruht das Herz des großen polnischen Helden, des Siegers von Dubienka.

Am 15. October waren es fünfzig Jahre, seit der greise Feldherr in Solothurn sein edles Leben aushauchte. Dort hatte [11] der müde Wanderer, der zwei Erdtheile mit dem Ruhme seiner Thaten erfüllt hatte, eine neue Heimath und die ersehnte Ruhestätte gefunden. Die Leiche, die nach seinem ausdrücklichen Wunsche in freier Erde ruhen sollte, wurde auf das Gesuch der polnischen Nation und des Kaisers Alexander nach Krakau gebracht und in der Gruft der alten Könige Polens beigesetzt. Sein Herz aber blieb in dem Lande zurück, wo es sich in seiner ganzen Größe und Liebenswürdigkeit gezeigt hatte, wo der Feldherr vor dem erhabenen Priester der Menschheit zurücktrat, wo der Kämpe für die höchsten Güter der Menschheit den Beweis leistete, daß er ob der Menschheit auch den einzelnen Menschen nicht vergaß. Wenn man von Kosciuszko spricht, so ist es immer nur der glühende Patriot, der treffliche Stratege, der löwenkühne Held – der Kosciuszko der Geschichte. In Solothurn aber lebt sein Bild in der Erinnerung des Volkes fort wie der sagenhafte Held einer Legende, wie der gute Eckard, der Freund der Kinder und der Armen; und nicht an den Mann mit dem kühnen Blick und dem schlagfertigen Arm, an den Soldaten mit der Kurtka und der polnischen Feldmütze mit dem Federstutz denken wir, wenn wir von unserm Kosciuszko sprechen, sondern an einen alten Herrn im blauen Ueberrock mit einer rothen Nelke im Knopfloch, an einen freundlichen Greisenkopf mit mildem Lächeln um die Lippen, an den großen Wohlthäter des Landes, der auf seinem kleinen schwarzen Pferde unermüdlich die Hütten des Elends und der Armuth als ein Bote des Friedens aufsucht.

Die Erinnerungen an die letzten Lebensjahre des großen Polen, wie sie theils noch im Munde des Volkes fortleben, theils in Zeitschriften und Flugblättern sich zerstreut vorfinden, zusammenzustellen, das Bild des historischen Kosciuszko zu vervollständigen und damit ein Erinnerungsblatt zur fünfzigjährigen Feier seines Todestages in der Gartenlaube niederzulegen, ist der Zweck der nachstehenden Zeilen.




In der blutigen Schlacht von Maciejowice (10. October 1794), dem Pharsalus Polens, war trotz der unerschütterlichsten Tapferkeit Kosciuszko’s ungeübte und schlecht bewaffnete Schaar von der furchtbaren Uebermacht Suwarow’s geschlagen worden. Mit Wunden bedeckt, von Blutverlust erschöpft, sank er selbst mit dem Rufe: „Finis Poloniae!“ vom Pferde. In russische Gefangenschaft gerathen, sollte er auf den Befehl der gereizten Kaiserin Katharina in dem festen Schlosse von Gregor Orloff sein Leben als russischer Staatsgefangener beschließen. Als aber Kaiser Paul den russischen Thron bestieg, war seine erste That ein hochherziger Act der Milde. Durchdrungen von ritterlicher Hochachtung für den edlen Feind seines Landes, ging er selbst in Begleitung seiner ältesten beiden Söhne, der Prinzen Alexander und Constantin, in das Gefängniß Kosciuszko’s und verkündete ihm seine Freiheit und diejenige seiner mit ihm gefangenen Freunde. „Je vous remets votre épée, mon général,“ fügte er hinzu, „en vous demandant votre parole de ne jamais vous en servir contre les Russes.“ (Ich gebe Ihnen Ihren Degen zurück, mein General, indem ich Ihr Wort fordere, daß Sie ihn nie wieder gegen die Russen führen wollen.) Zugleich beschenkte er ihn mit fünfzehn hundert Bauern und, um ihn unabhängig zu stellen, mit einer Geldsumme von zwölftausend Rubeln.

Sobald er von seinen schweren Wunden geheilt war, segelte der polnische Feldherr nach Amerika, wo er als amerikanischer Brigadegeneral mit großer Ehre empfangen wurde und seinen väterlichen Freund Washington wiedersah. Eine diplomatische Sendung führte ihn bald darauf nach Frankreich, dessen Nationalversammlung ihn schon mehrere Jahre früher zum Ehrenbürger dieses Landes ernannt hatte. Sobald seine Geschäfte in Paris beendet waren, zog er sich in die Gegend von Fontainebleau zurück, wo er auf dem Schlosse Berville bei seinem treuen Freunde Zeltner, Gesandten der schweizerischen Eidgenossenschaft, ein zurückgezogenes, den Wissenschaften und der Erziehung der Kinder Zeltner’s gewidmetes Leben führte. Als aber nach der Völkerschlacht von Leipzig die Heere der verbündeten Mächte Frankreich überflutheten und die Wellen des Kriegslärms bis an sein Tusculum schlugen, als so manches Andere seinen Blick in die Zukunft verdüsterte, verließ er nach fünfzehnjährigem glücklichen Aufenthalt sein Adoptivvaterland, reiste nach der Schweiz und schlug seinen dauernden Wohnsitz in Solothurn auf.

Kurz vor seiner Abreise sollte er noch den Beweis erhalten, daß der Glanz seines Namens im Norden noch nicht erbleicht war. Die russischen und polnischen Truppen wütheten in der Umgebung von Fontainebleau mit Mord und Brand. Kosciuszko konnte diesen Gräueln nicht länger zusehen, und als er in der Nähe von Berville solchen Banden begegnete, die eben ein paar arme Hütten in Brand stecken wollten, sprengte er mitten unter sie und rief mit lauter Stimme: „Halt, Soldaten! Als ich noch brave Krieger von Polen anführte, war kein Gedanke an Plünderung, und strenge würde ich Soldaten und noch unnachsichtlicher Officiere gestraft haben, die sich so benommen hätten!“ – „Und wer bist Du,“ rief man von allen Seiten, „daß Du Dich anmaßest, uns das zu bieten?“ – „Ich bin Kosciuszko.“ – Da warfen Soldaten und Officiere ihre Waffen weg, baten kniefällig um Verzeihung, umfaßten nach Landessitte sein Knie und streuten als Zeichen der Reue Staub auf ihr Haupt. – Berville blieb verschont, das Schloß erhielt eine Ehrenwache von Kosaken und Kaiser Alexander versicherte Kosciuszko in einem Handschreiben seiner Hochachtung und lud ihn zu sich nach Paris ein.

Solothurn bot so Manches dar, was diesen Aufenthaltsort Kosciuszko lieb und werth machen mußte. Ein stilles, schmuckes Städtchen in reizender Lage, auf der einen Seite den blauen Jura mit seinen Tannenwäldern und seinem malerischen Höhenprofil, auf der andern in duftiger Ferne die langgestreckte Kette der Schweizer-Alpen; nach allen Seiten schattige Lindenalleen (sie sind seither vom Boden verschwunden) und würzige Tannenwälder, hübscher Wiesengrund und die schönsten Aussichtspunkte für den Freund der Natur. Nirgends war die Poesie der Landschaft durch rauchende Schlote oder unmalerische Bauwerke rasselnder Fabriken unterbrochen. Die Stadt selbst zählte nur fünftausend Einwohner, aber sie war Sitz einer Regierung und eines Gymnasiums, und das sichert immer einen Kern der Bildung und Gelehrsamkeit. Die Einwohner endlich waren von jeher ein aufgewecktes, lebensfrohes Völklein, das sich durch entgegenkommende Liebenswürdigkeit gegen Fremde auszeichnete. Mehr als Alles das galt aber Kosciuszko der Umstand, daß Solothurn die Vaterstadt seines theuren Pariser Freundes Zeltner war und daß dort ein Bruder desselben wohnte, Altstatthalter X. Zeltner, der nur zu glücklich war, den alten Degen in seiner Familie aufzunehmen.

Groß war das Aufsehen, welches die Nachricht von der Ankunft des berühmten Fremden in Solothurn erregte. Die Bürgerschaft der Stadt bezeigte ihm ihre Hochachtung durch einen feierlichen Aufzug des Schützencorps und der Staatsrath sandte eine eigene Deputation in’s Zeltner’sche Haus, um ihm seine Verehrung an den Tag zu legen und seine guten Dienste anzubieten. Kosciuszko lehnte aber mit Bescheidenheit alle Auszeichnungen ab. In der Familie seines neuen Gastfreundes hatte er Geistes- und Gesinnungsverwandte, einen liebenswürdigen, gebildeten Familienkreis, Begeisterung für alles Hohe und die herzlichste Aufnahme gefunden.

Der hochbetagte Greis, der, durch Wunden und lange Leiden geschwächt, der Pflege bedurfte und doch allein auf der Welt stand, fühlte sich unter diesen guten Menschen rasch zu Hause und der Entschluß stand fest, seinen Wanderstab hier niederzulegen. Der biedere Sinn des Hausvaters, das stille hausmütterliche Walten von dessen Gattin und die Gesellschaft der muntern Kinder waren ihm gleich anziehend; und das einfache, zurückgezogene, auf sich selbst und wenige Hausfreunde angewiesene Leben der Familie stimmte vollkommen mit seinen Neigungen überein. Selbst der einfache bürgerliche Ton und die bescheidenen Verhältnisse des Hauses standen im Einklang mit seinen Lebensgewohnheiten. Er hatte nie äußern Glanz und Gepränge geliebt, und wie er auf dem Gipfel seiner Lebensstellung, als Dictator von Polen, als allmächtiger Naczelnik, einfach soldatisch gelebt hatte, so nahm er auch jetzt an den einfachen Mahlzeiten der Familie Theil, schlief auf einem Feldbette und hielt sich nur einen alten treuen Diener und für seine Ausflüge in die Umgebung ein kleines Pferd.

Sein Leben war regelmäßig, seine Zeit soldatisch streng eingetheilt. Ein Theil derselben war der eigenen wissenschaftlichen Ausbildung gewidmet und Geographie und Geschichte seine Lieblingsstudien, die ihm schon zur Zeit seiner Gefangenschaft auf Schloß Orloff die Zeit verkürzt hatten. Mehr aber, als für sich selbst, sorgte er für die Ausbildung von Emilie Zeltner, der zwölfjährigen Tochter seines Freundes. Das sinnige, reichbegabte [12] Mädchen hatte beim ersten Eintritte in’s Haus sein Herz erobert, und da sich auch die Kleine mit dem ganzen Enthusiasmus einer erregbaren Natur an den Alten anschloß, entstand ein rührendes Verhältniß zwischen diesen zwei an Alter so verschiedenen Seelen, das bis zum Tode des Generals fortdauerte. Dieser hatte sich ausbedungen, die höhere Ausbildung der kleinen Freundin selbst zu besorgen, und so gab er ihr denn täglich gewissenhaft Stunden in Geographie und Geschichte, namentlich des alten Roms. Noch besitzen wir die Berichte gebildeter Polen, die zufällig Zeugen solcher Stunden waren und mit Rührung des innigen Verhältnisses zwischen ihrem angebeteten Helden und „sa chère petite amie“ gedenken, Aber auch außerhalb der Lehrstunden war Fräulein Zeltner der Lieblingsumgang Kosciuszko’s. Er war von jeher ein Kinderfreund gewesen und stellte die Naivetät des weiblichen Wesens über Alles; und wie er nie ausging, ohne seine Taschen voll Zuckerwerk zu haben, um die ihn auf der Straße jubelnd begrüßenden Kinder zu beschenken, so wurde auch Emilie von ihm bei allen Anlässen beschenkt und gefeiert. Ihr zu Ehren veranstaltete er kleine Kinderbälle, wo er sich mit rührender Herzlichkeit unter die Jugend mischte, an den Spielen Theil nahm und mit den Kindern scherzte und lachte. Ja, so groß war Emiliens Einfluß auf ihren väterlichen Freund, daß sie zuletzt die Vermittlerin zwischen ihm und der Außenwelt wurde; sie mußte ihm Bittschriften überreichen, Unterstützungsgesuche übermitteln und dergleichen.

Der Friedhof von Zuchwil mit Kosciusko’s Grabmal.0 Nach der Natur aufgenommen von Süterlin.

Im Uebrigen lebte Kosciuszko in Solothurn sehr zurückgezogen, auf einen kleinen Kreis bewährter Freunde beschränkt, Gelehrte, Kaufleute, Officiere, die sich jeden Abend zu einer Tasse Thee bei ihm einfanden. Höflichkeitsbesuche machte er keine und die müßige Neugierde, die sich so gern berühmten Männern an die Fersen heftet, hielt er sich fern. Am liebsten verkehrte er mit Landleuten, Handwerkern und Taglöhnern; stundenlang konnte er den Landwirthen bei ihrer Feldarbeit zusehen, sie über Einzelnes befragen und sich die verschiedenen Gebräuche erklären lassen. Auch in den berühmten Steinbrüchen bei Solothurn war er ein häufiger und gern gesehener Gast, und nicht selten legte er beim Bewegen von Lasten und dergleichen selbst Hand an. Seine Ausflüge in der Umgebung der Stadt machte er meist zu Pferde und ohne alle Begleitung, die Heerstraßen vermied er, schlug einsame Feld- und Waldwege ein und suchte die armen Hütten der am Jura sich hinziehenden Dörfer, die niedrigen Behausungen armer Steinmetzen und Tagelöhner auf. Wo er da einen bedürftigen, mit der Noth des Lebens ringenden Familienvater, einen Kranken auf dem Siechbette wußte, stieg er vom Pferde, band es an einen Baumstamm, trat unter das arme Dach und brachte Trost und reichliche Gaben. Zu diesem Behufe hatte er denn auch immer bei diesen täglichen Besuchen in den Satteltaschen seines Pferdes ein paar Flaschen alten Weines, die er als Lebensessenz armen Kranken brachte. Lange ahnte Niemand, wer der hohe freundliche Greis mit dem liebevollen Blick und der immer offenen Hand war; denn ehe die Armen aus ihrer Ueberraschung über seine Liebesspenden gekommen waren, saß er zu Pferde und trabte einer neuen Hütte der Armuth entgegen. Doch auch die Bettler auf der Straße, der reisende Handwerksgeselle und Invalide wurde nicht vergessen, und nie machte er sich auf die Straße, ohne eine Hand voll Scheidemünze in seiner Tasche zu tragen. Sein Pferd war mit den Gewohnheiten seines Herrn so vertraut, daß es bei jedem Armen, der an der Seite der Straße lag oder den bittenden Blick zu seinem Reiter emporhob, stehen blieb und nicht von der Stelle wich, bis das übliche Scherflein gespendet war. Da diese Wanderungen täglich, ohne Rücksicht auf Regen und Schneegestöber statt fanden, so kannte der General bald die Armentopographie der Umgebung bis auf stundenweite Entfernungen.

Der Winter des Jahres 1816–17 war bekanntlich ein sogenanntes Hungerjahr und die Theuerung erreichte eine Höhe, daß selbst die Wohlhabenden sich viele Beschränkungen auflegen mußten. Die segensreiche Thätigkeit, die Kosciuszko um diese Zeit entfaltete, [13] war unbeschreiblich. Mit verdoppeltem Eifer setzte er seine Besuche zu Pferde fort, vertheilte täglich an fünfzig Arme Geldgeschenke, regte zu Sammlungen, zu Speiseanstalten für die Armen an und war überall thätig. Selbst hohe Summen verwandte er oft auf einmal, um unverschuldete Armuth vom Untergange zu retten. Als er eines Abends spät hörte, daß zwei brave Familien der Stadt wegen einer bedeutenden Geldschuld in wenigen Tagen aus Hof und Haus vertrieben werden sollen, händigte er Frau Zeltner sogleich das Geld ein, um es noch am selben Abend den Bedrängten zu übersenden. „Zögern Sie ja nicht,“ fügte er bei, „den braven Leuten noch heute das Geld zuzustellen; man darf sie keinen Augenblick länger in diesem Kummer lassen. Und sollten sie schon schlafen, lassen Sie dieselben aufwecken; es wird ein freudiges Erwachen sein und ein um so ruhigerer Schlummer wird darauf folgen, wenn das Elend nicht mehr über ihrem Haupte schwebt.“

Kosciusko.
Nach dem Originalportrait von Rieker, im Besitz des Herrn Bankier Brunner in Solothurn.

Nichts aber stellt die echt humane Geistesrichtung unseres Helden in ein schöneres Licht, als der folgende Zug. Im März 1817 war ein armer Landpfarrer, der sein Lebenlang in einer der ärmsten Pfarreien des Cantons als Seelenhirt gewirkt hatte, von den Behörden mit einer der reichsten Pfründen bedacht worden, damit er den Abend seines Lebens ohne Sorgen und Mühe verleben könnte. Die Ernennung war mit einem sehr ehrenden Anerkennungsschreiben begleitet. Der edle Greis konnte sich aber nicht entschließen, um seiner eigenen Behaglichkeit willen seine geliebte Heerde zu verlassen, und lehnte die Beförderung dankend ab. Kaum hatte K. diesen schönen Zug der Entsagung vernommen, als er sich auf den Weg machte, um diesen echten Priester Christi kennen lernen. Als er bei dem bescheidenen Pfarrhaus ankam, war der Geistliche bereits am Rasiren und ließ sich entschuldigen, daß er in diesem Aufzuge den hohen Besuch nicht empfangen könne. Allein Kosciuszko ließ sich nicht zurückhalten; mit jugendlichem Ungestüm drang er in das Zimmer des braven Landpredigers, schloß ihn mit Thränen in den Augen in seine Arme, bat ihn um seine Freundschaft und bezeigte ihm auf jegliche Weise seine Hochachtung. Das Pfarrhaus am Jura wurde von da an ein Lieblingksziel der Spazierritte des wackern Generals.

Während seines zweijährigen Aufenthaltes in Solothurn machte K. auch größere Reisen zu Pferde, um die Schweiz kennen zu lernen. So besuchte er im Sommer 1816 die classischen Stellen des Vierwaldstättersees und das Schlachtfeld von Morgarten. Als er dort an Ort und Stelle die Einzelnheiten jener denkwürdigen Kämpfe studirte, wurde sein Herz von alten Erinnerungen an die eigenen Erlebnisse wehmüthig bewegt, und tiefergriffen drückte er die Hand seines Freundes Zeltner und flüsterte: „Ach, hätte mich bei Maciejowice auch ein Hühnenberg gemahnt und hätte Poninski Reding’s Schnelligkeit besessen!“

Eine spätere Tour galt der französischen Schweiz und namentlich der weltberühmten Erziehungsanstalt des großen Volkslehrers Pestalozzi in Yverdon. Zwei Tage brachte er dort zu, wohnte den Unterrichtsstunden bei, verkehrte mit dem lebhaftesten Antheile mit Lehrern und Schülern und wurde mächtig angeregt. Bis zum Tode beschäftigte ihn der Gedanke, auch in Polen Schulen und Lehrerseminarien im Geiste des großen Pädagogen von Yverdon zu begründen.

[14] Kurz vor seinem Tode sollten noch zwei Begegnungen, wie ein Gruß aus der fernen Heimath, einen belebenden Lichtstrahl in sein stilles Dasein senden. – In einem der Nonnenklöster von Solothurn lebte auch eine Polin, die in Folge der politischen Ereignisse ihre Heimath verlassen und in diesen Mauern eine Zufluchtsstätte gefunden hatte. Sobald der General davon vernommen hatte, besuchte er sie in strengem Incognito und unterhielt sich freundlich mit ihr in der Muttersprache. Plötzlich aber erglühte die Nonne, wie aus einem Traume erwacht, und ehrfurchtsvoll ein paar Schritte zurücktretend, rief sie aus: „Sie sind Kosciuszko! Ich habe als Mädchen in Polen Ihr Bild als Medaille an der Brust fast aller Damen gesehen und es kann kein zweites Gesicht auf Erden geben, in dessen Zügen sich so viel Hohes und Edles vereinigt, als das des großen Naczelnik.“

Die zweite Begegnung war der Besuch, den die edle Fürstin Lubomirska, eine der ersten Frauen Polens, ihm auf der Durchreise nach Italien im Zeltner’schen Hause abstattete und der auf seinen Wunsch einige Wochen verlängert wurde. Ihre feine Unterhaltungsgabe, ihre Liebenswürdigkeit und ihr heiterer Sinn beglückten noch seine letzten Lebenstage. Denn Kosciuszko war schon damals leidend und ahnte, gleich den Sehern des Alterthums, sein herannahendes Ende. Beim Abschiede, welcher sehr bewegt war, versprach ihm die Fürstin, im künftigen Frühling den Besuch zu wiederholen. Kosciuszko schüttelte aber wehmüthig das Haupt und bat sich von ihr ein Unterpfand der Erinnerung aus. Die Fürstin schickte ihm bald darauf von Lausanne aus einen goldenen Fingerring mit der Inschrift: L'amitié à la vertu. (Die Freundschaft der Tugend.) Als aber der Reif in Solothurn ankam, war die Hand, welche er schmücken sollte, im Todeskampfe erstarrt! –

Im Vorgefühle, daß sein Leben zur Neige gehen werde, hatte er auch wohl jene großartige Handlung begangen, die ganz Europa mit Bewunderung erfüllte und seinen humanen aufgeklärten Sinn in so schönem Lichte zeigte: die Freigebung seiner Unterthanen auf seinem Rittergute Siechnowice. Die denkwürdige Urkunde, die am 2. April 1817 ausgestellt wurde, erklärte die Landleute des von seiner obengenannten Herrschaft abhängigen Dorfes zu freien Staatsbürgern, zu Eigenthümern des von ihnen besessenen Grund und Bodens, frei von allen Abgaben, Gefällen und Frohndiensten an die Eigenthümer des Gutes. – Gleichzeitig ernannte er seine Nichte, Katharina Estkowa, und deren Kinder zu Eigenthümern dieser seiner Besitzung. –

Im Herbste desselben Jahres, herrschte zu Solothurn eine bösartige Typhusepidemie, die wahrscheinlich mit dem Nothstande jenes Jahres im Zusammenhang stand. Die Seuche sollte auch für den edlen Grafen verhängnisvoll werden: am ersten October wurde er von den Vorboten der Krankheit befallen. Mit der ihm eigenen Ruhe ordnete er sogleich seinen letzten Willen an. Den Haupttheil seines nicht unbeträchtlichen Vermögens, hinterließ er der Familie Zeltner und bedachte namentlich seine theuere Emilie auf’s Väterlichste. Die Armen, sowie das Waisenhaus und verschiedene andere Wohlthätigkeitsanstalten wurden reichlich ausgestattet und überdies seinem biedern Freunde und Anwälte Amiet eine beträchtliche Summe in Baar übergeben, um sie unter verschämte Arme zu vertheilen. Ausdrücklich verfügte er, daß bei seiner Beerdigung alles Gepränge vermieden werde; dagegen sollte der Sarg von sechs Armen zu Grabe getragen werden. – Nachdem Kosciuszko diese Anordnungen getroffen hatte, legte er erleichtert die Feder weg und rief aus: „Nun ist mir wohl.“ Die Ueberzeugung seines nahen Todes stand aber bei ihm fest, obgleich die Erscheinungen der Krankheit nicht bedrohlich waren und sein Geist bis zum Tode ungetrübt blieb. Ruhig unterhielt er sich mit Freund Zeltner, der kaum von seiner Seite wich, über seine Vergangenheit und über die Zukunft Polens, eine Frage, die ihn bis zum letzten Athemzuge beschäftigte.

Feierlich und ergreifend war der Augenblick, als Kosciuszko von seinem Freunde und dessen Familie Abschied nahm. Alle knieten an dem Bette des theuren Kranken nieder, Jedem ertheilte er seinen Segen, für Jeden hatte er ein Wort der Liebe. Dann ließ er sich nach alter Sitte seinen Säbel reichen, schaute ihn ein paar Augenblicke wehmüthig an und legte ihn dann an seine Seite, als wollte er ihm die Wache über seine Asche anvertrauen. – Am 15. October gegen Abend nahmen seine Kräfte rasch ab und Allen drängte sich die Ueberzeugung auf, daß es mit seinem Leben zur Neige gehe. Auf einmal richtete er sich, mit Anstrengung aller Kräfte auf seinem Lager auf, reichte Herr und Frau Zeltner seine Hände, grüßte mit sanftem Lächeln seine Emilie[1] – und sank mit einem Seufzer todt in die Kissen zurück. –

Die Leiche wurde am folgenden Tage obducirt und dann einbalsamiert. Sie war über und über mit den Spuren alter Wunden bedeckt; mehrere tiefe Narben schmückten seine Brust und auf seinem Kopfe kreuzten sich mehrere Hiebe. Beim Entkleiden der Leiche fand man auf seiner Brust ein weißes Taschentuch, das er seit seiner Jugend immer dort getragen hatte und dessen Bedeutung nur Wenige kannten. Es war das letzte Liebespfand von Louise Sosnowska, der Tochter des Marschalls von Lithauen, das er seit vierzig Jahren als theure Reliquie seiner reinen und einzigen Liebe auf dem Herzen trug. Vierzig Jahre früher, als der berühmte Todte noch ein unbekannter Capitän war, hatte er um die Hand der jungen Dame angehalten. Die stolzen Eltern hatten den unbegüterten Edelmann hart abgewiesen. Eine Entführung war die Folge dieses Bescheides, und schon waren die beiden Liebenden unter dem Schutze der Nacht entflohen und dem Ziele ihrer Wünsche nahe, als bewaffnete Verfolger sie erreichten. Kosciuszko vertheidigte sich wie ein Löwe, wurde aber überwältigt und sank schwerverwundet zusammen. Als er aus seiner Betäubung erwachte, war Alles, was er von seiner Geliebten fand, ein Taschentuch, das sie fallen gelassen und das mit seinem Blute befleckt war. Er hob es auf; es war dasselbe Taschentuch, das man nach seinem Tode vorfand. Um dieser unglücklichen Liebe willen verließ der junge Officier den polnischen Dienst und widmete seinen Degen der Befreiung Amerikas. In der Erinnerung an diese Liebe mied er auch später jede Gelegenheit einer ehelichen Verbindung. – Fräulein Sosnowska wurde später die Gattin eines hochgestellten Polen, allein auch sie bewahrte in treuester Freundschaft die Erinnerung an ihren geliebten Thaddäus.

Das Leichenbegängniß des Helden war einfach, ohne alles militärische Gepränge, aber erschütternd durch die allgemeine Trauer, durch die Schaaren derer, denen er Vater gewesen und die nun wehklagend dem Sarge folgten. Sechs arme Greise trugen den Sarg. Voran schritten Waisenkinder mit Trauerschärpen, Blumen in den Händen tragend. Der Sarg war unbedeckt, damit ganz Solothurn noch einmal die theuern Züge des edeln Freundes sehen könnte. Jünglinge schritten an der Seite und trugen des Todten Schwert, Hut, Feldherrnstab, den amerikanischen Cincinnatusorden und Lorbeer- und Eichenkränze auf schwarzsammtnen Kissen. In der Jesuitenkirche von Solothurn wurde die Leiche, nachdem der feierliche Gottesdienst zu Ende war, in einen bleiernen Sarg gelegt, dieser mit dem obrigkeitlichen Siegel versehen, in einen zweiten Sarg von Eichenholz geschlossen und in dem Grabgewölbe der Kirche beigesetzt.

Groß war in Polen der Schmerz bei der Kunde vom Tode des großen Bürgers! Unerträglich schien der Gedanke, daß der große Vaterlandsvertheidiger in fremder Erde ruhen sollte. Im Namen des polnischen Volkes wurde Kaiser Alexander angegangen, zu gestatten, daß die Leiche des enthusiastisch verehrten Feldherrn dem heimathlichen Boden zurückerstattet werde. Dieser Fürst, der bei wiederholten Anlässen seine Hochachtung und Sympathie für Kosciuszko bezeugt hat, genehmigte das Gesuch auf das Bereitwilligste. Die Regierung von Solothurn ehrte die Ansprüche Polens, und so wurde denn die Leiche wieder aus ihrer Gruft gehoben und feierlich, unter Begleitung des Fürsten Jablonowski, Kaiser Alexanders Kammerherrn, nach Polen gebracht. Sein Herz aber war bei der Einbalsamirung in eine metallene Kapsel gebracht und auf dem Kirchhofe von Zuchwil beigesetzt worden. „Das Herz des polnischen Feldherrn hat für die ganze Welt geschlagen, möge es denn auch hier der Verehrung der ganzen Menschheit zugänglich sein!“ Herr Altlandvogt Zeltner, der diese Anordnungen getroffen, hatte mit diesen Worten die Auslieferung dieser Reliquie an Polen verweigert. –

Und so sind wir wieder auf dem Punkte angelangt, von welchem diese Erinnerungen an den großen Polen ausgingen, auf dem Friedhof von Zuchwil, vor dem einfachen Denksteine aus Jurakalk, bei dem schon so manche Thräne geflossen, so manches wehmüthige Erinnerungsfest gefeiert worden, zu dem Hunderte und Hunderte von gebeugten polnischen Flüchtlingen gepilgert sind. [15] Und hier möge auch dieser kurze Bericht abbrechen. Die Todesfeierlichkeiten, die in fast allen Residenzen bei der Nachricht vom Tode Kosciuszko’s begangen wurden, die Reden und Gedichte, mit denen ihn alle gebildeten Nationen verherrlichten, die Monumente, die ihm zu Krakau und Westpoint in Nordamerika errichtet wurden – sie galten dem Helden und dem glühenden Patrioten, während dieser kurze Abriß aus seinem Leben den Dulder Kosciuszko, den edeln aufopfernden Freund, den Vater der Armen und sein kindlich reines Herz in Erinnerung bringen sollte.

Möchte es diesen Zeilen gelungen sein, für unsern Helden, dessen Name als Feldherr und Patriot unsterblich sein wird, auch dieses rein menschliche Interesse zu wecken. R. O. Ziegler.     


  1. Die hier vielgenannte junge Dame ist die jetzt noch lebende Frau Gräfin Morosini in Mailand.