„Du Adler im Tann!“
„Du Adler im Tann!“
Ein Eichbaum grenzt an den Tann im Süd
Und streckt hinein einen Zweig –
Der Eichenzweig, der im Tannwald blüht,
Er heißt „Deutsch-Oesterreich“.
Und auf dem Zweige horstet ein Aar,
Der Herrscher im weiten Tann,
Indeß sein Bruder und Grenznachbar
Den Wipfel der Eiche gewann.
Da, siehe, erspäht sich ein Geier die Zeit,
Zu nisten im Eichenlaub,
Längst weiß er die mächtigen Brüder entzweit
Und hofft auf leichten Raub.
Und Kriegsruf schallt durch den Eichenwald
Und zündet weit und breit –
Nur Einer, der Adler im Tann, bleibt kalt,
Ihm kämpft im Herzen ein Streit.
Du Adler im Tann, was blickst du so stier?
Zückst du im Stillen den Fang,
Weil der Bruder in blutigem Kampfe mit dir
Sich auf den Eichbaum schwang?
Gedenkst du im Herzen: „Er kränkte mich,
Es brennen die Wunden mir noch!“
O denke: Zwei Brüder schlagen sich
Und bleiben Brüder doch!
Und schlugt ihr euch auch die Flügel wund,
Thut’s nicht dem Geier zu Nutz,
Schließt lieber zusamm’ einen Bruderbund,
Einen Bund zu Schutz und Trutz!
Du Adler im Tann, entschließe dich recht,
Befrage dein edeles Blut,
Denn Adler, sie sind vom Königsgeschlecht,
Doch Geier sind Räuberbrut.
Und nisten sie sich, was Gott verhüt’,
Im deutschen Eichenwald ein,
So wird, o Adler, dein Tann im Süd
Ihr nächstes Opfer sein!
G. v. Meyern.