„Stanni“ und der Kuß für ganz Tyrol
„Stanni“ und der Kuß für ganz Tyrol.
Es giebt Geschichten, die man immer wieder gern erzählen hört, und wenn man sie auch schon hundert Mal gehört hat. Eine solche Geschichte ist das deutsche Schützenfest. Aber nicht nur in der altehrwürdigen Stadt am Mainesstrande allein wird das Wort erklingen, das Alle beredt macht; nein, im ganzen deutschen Reiche und weiter hinaus, so weit die deutsche Zunge klingt, bis über das Weltmeer, wird es jetzt fort und fort wiedertönen wie ein vernehmliches, weithinschallendes Echo. Das Fest ist wie ein Stein, der in’s Wasser geschleudert worden ist: er zieht immer weitere und größere Kreise; das Wasser, das ist „die See, die unergründliche, die tiefe See des deutschen Volksbewußtseins“, wie sie Berthold Auerbach so schön in der Festhalle bei einer Banketrede bezeichnet hat. Das nach langem Schlafe wieder geweckte und wieder erwachte Volksbewußtsein wird sich an der Sonne dieses Festes, das es als seine schönste That begrüßen darf, noch lange erwärmen, und ihre Strahlen werden manchen langen Winterabend gründlich erhellen, wenn im Salon oder in der Spinnstube die Rede auf die Reise nach Frankfurt und die Erlebnisse daselbst kommt. In der Spinnstube! Da wird das echt deutsche Volksfest erst recht seinen Boden finden und kräftige Wurzeln schlagen. Wie werden sie da, wenn’s draußen stürmt und schneit, traulich zusammenhocken und sich von Einem aus ihrer Mitte, der dabei gewesen ist und „der’s wissen muß“, haarklein erzählen lassen, wie Alles beim Feste zugegangen ist und wie der Herzog ausgesehen hat und wie die Festjungfrauen geputzt waren, und wie kein Stand und kein Rang gegolten hat und wie das deutsche Vaterland über Alles gegangen ist! Dann wird der Kalender herbeigeholt werden, in dem dieses Jahr die Festhalle abgebildet ist, und die Beschreibung dazu, und sie wird immer und immer wieder durchstudirt werden und von Hand zu Hand gehen.
Wer aber erst einen Preisbecher oder gar eine kostbare Ehrengabe mit nach Hause gebracht hat, wie wird der beneidet und von den hübschen Dirnen des Dorfes freundlich angeschaut werden! Ueber zwei Jahre wollen’s ihm die Andern gewiß gleich thun. Und nun erst der „Stanni“, der durch einen einzigen Kuß in ganz Tyrol so berühmt geworden, wie Wildauer durch eine einzige Rede – wie wird der erst in seinem Heimathsort angestaunt werden, wie wird er ausgefragt werden und auf jedem Tanzplatz, wo er erscheint, der Held des Tages sein! Ich setze voraus, daß Sie, geehrte Leser und noch mehr geehrte Leserinnen, bereits wissen, wer der „Stanni“ ist; für den Fall jedoch, daß Sie in dem Capitel der historischen Küsse ganz unbewandert sind, sei Ihnen hier eine Lection darin ertheilt.
Der Stanni also ist ein schmucker Tyroler, so recht ein „blitzsauberer Bua“, während viele seiner Landsleute sich mehr durch unnatürliche Eigenschaften auch in ihrem Aeußeren kennzeichneten. Als sauberer Bua war er nach Frankfurt gekommen, als decorirter Mann ist er in seine Berge zurückgekehrt, gerade wie der Herr Professor Wildauer. Aber seine Decoration ist eine viel schönere, als die des Herrn Professors mit der feinen Stahlbrille und dem privilegirten k. k. österreichischen Unterthanenherzen – kein trüber Ordensstern auf kalter Brust, vom Kaiser und Herrn allergnädigst verliehen, sondern der warme Kuß einer deutschen Jungfrau und nicht für den Decorirten allein gespendet, sondern für sein ganzes Land.
Dieser festjungfräuliche Kuß aber war nicht allenfalls eine vorher festgesetzte Nummer des Festprogramms, so daß es in demselben geheißen hätte: „Abschiedstag. Feierliches Geleite für die abgehenden Schützen. Kuß einer Ehrenjungfrau für das ganze Land Tyrol –“, worüber sich die übrigen nicht mit Küssen vorgesehenen Länder mit Recht hätten beschweren können, sondern das hat sich ganz improvisirt und zufällig also zugetragen. Es war am letzten Festtage, Nachmittags zwischen fünf und sechs Uhr. Soeben hatte ein feierlicher Act das herrliche Fest glänzend beschlossen, wie es vor zehn Tagen ein feierlicher Act glänzend eröffnet hatte. Beim freundlichsten Sonnenschein hatte unter dem Zudrang vieler Tausende am Gabentempel die Preisvertheilung stattgefunden. So oft der Name eines Preisgekrönten ausgerufen wurde, schmetterte die Musik lustig darein, die Fahnen salutirten und die Kanonen donnerten in den Jubel der zujauchzenden Menge. Mild, friedlich und würdig edel, wie sie der Bildner (Hr. v. Nordheim) dem großen Friedensfeste aller Deutschen angemessen aufgefaßt hatte, thronte die Germania hoch über den Häuptern des zu ihren Füßen um sie wallenden Volkes und hielt in der ausgestreckten Rechten den Würdigen den Kranz dar. Mitten unter ihren Söhnen aber standen auch die Töchter ihres Landes, die rosengekrönten, schärpentragenden Festjungfrauen, aus deren Händen die kostbaren Ehrengaben, nachdem sie dieselben dem Volke gezeigt, in die Hände der Sieger übergingen. So mag’s den Siegern in Olympia zu Muthe gewesen sein, als ihnen ihre sonst, wie die deutsche, vielgespaltene, beim festlichen Wettspiele aber geeinigte Nation zujauchzte. Damals war es freilich nur ein einfacher Kranz, in dessen Besitz die Stadt, die ihn davongetragen, ihren größten Stolz setzte. So sollte es auch bei uns sein, denn nicht immer ist es edler Ehrgeiz und Lust am männlichen Spiele, die des Schützen Arm führt, das leidige „Brodschützenthum“ – doch wir haben unsern Helden ganz aus den Augen verloren und ehe wir zu ihm zurückkehren, müssen wir noch um ein wenig Geduld bitten. Denn es fällt uns bei der Preisvertheilung noch eine Episode ein, die wir nicht verschweigen wollen.
Die Ehrenjungfrauen, nur zwölf an der Zahl, hatten sich um das Fest ein großes Verdienst erworben. Sie hatten uns durch ihre duftige Gruppe im Festzüge daran erinnert, daß nicht Mannesmuth und Manneskraft allein genügen, sondern daß sich ihnen auch Frauenmilde und Frauenschöne einen muß. Es mußte ihnen daher mit Fug und Recht auch eine Huldigung dargebracht werden. Ein Schleswig-Holsteiner hatte mit ritterlichem Takt ein passendes Geschenk für sie herausgefunden, einen kunstvoll von Zucker gearbeiteten Blumenkorb mit der Inschrift:
Frankfurts Jungfraun diese Gabe
Von der Nordsee, von dem Belt;
Wenn ich solche Mädchen habe,
Stürm’ ich trotzig eine Welt.
Dieses süße Geschenk ward den Festjungfrauen unter der lebhaften Acclamation der Menge nach der Preisvertheilung am Gabentempel überreicht, und der Schleswig-Holsteiner hielt eine kurze Ansprache dabei, die von einer der Damen erwidert ward. Dieser poetischen Scene folgte wieder lauter Schlachtenlärm auf dem Fuße. 120 Kanonenschüsse kündeten den Schluß des ersten deutschen Bundesschießens. Kaum waren sie verklungen, als wieder ein anderes Schauspiel die Blicke Aller auf sich zog. So drängte bis zuletzt auf dem Festplatze ein Bild in stetem Wechsel das andere, Auge und Ohr stets tausendfältig fesselnd. Fahnen schoben sich zusammen, bewaffnete Männer schaarten sich um sie, Musik trat an ihre Spitze. Was bedeutet das? Heute ist doch kein Becher mehr herausgeschossen worden, den sie jetzt in festlichem Umzug heimzutragen sich anschicken. Und doch blitzen mehr als hundert Becher aus der bunten Gruppe hervor. Das sind die Baiern, die Tyroler und die übrigen Oesterreicher, die sich zur Abreise rüsten. Zusammen, als ein geschlossenes Ganzes, waren sie gekommen, so wollten sie auch scheiden. Sie hatten hübsch bis zuletzt ausgehalten, die meisten anderen Schützen waren schon in den Tagen zuvor vereinzelt von dannen gezogen.
„Die Tyroler gehen ab!“ rief es da auf einmal. – „Wer begleitet sie mit?“ Und im Nu Latte sich ein Häuflein gefunden, welches dem Rufe gefolgt, und – siehe da! – es ward immer größer und größer, bis es zuletzt ein ganz stattlicher Festzug war, darunter Comitémitglieder, Frankfurter Schützen, Turner und Turnerknaben und – vor Allem – die Festjungfrauen. Nur langsam setzte sich der Zug in Gang; es schien fast, als ob auf jeden Schritt vorwärts zwei rückwärts gekommen wären, und als ob die Scheidenden alle Janusköpfe trügen, denn alle Gesichter waren nach rückwärts gekehrt, während sie vorwärts schritten. Das Halsverdrehen that auf die Dauer nicht gut, drum machten die Scheidenden draußen auf der Chaussee vor dem Festplatze gleich wieder Halt und wandten das Gesicht noch einmal der so sonnig und wonnig herüberstrahlenden Festhalle zu. Und die Innsbrucker Sänger stimmten ein „Gsangrl“ an: „Ade, du mein Frankfurt, du bist ja mei Freud!“ Und aus gepreßtem Herzen fielen die bärtigen, wettergebräunten Gesellen ein in den Jodler am Schluß, so leidenschaftlich, so gellend, als wollten sie ihren Trennungsschmerz in einem Schrei hinaus jubeln. Singend, springend und [557] musicirend zogen sie nun durch die Stadt. Da that sich noch manches Fenster auf, und manche Schöne winkte Abschiedsgrüße und warf Blumen und Sträuße herunter. Am Bahnhof wimmelte es von Menschen, wie an dem Tage, da die Süddeutschen bei strömendem Regen angekommen waren. Auch der österreichische Bundespräsidialgesandte war in seinem Wagen an der Eisenbahn. Es war noch ein Stündchen Zeit bis zur Abfahrt, und in dieser Stunde wurden mehr Hände gedrückt, mehr Umarmungen und Liebeszeichen gewechselt, mehr Küsse gegeben, als sonst in einem Jahre. Einer dieser Küsse ist, wie gesagt, historisch geworden. Eben hatte Dr. Sigm. Müller den wieder mit den deutschen Brüdern in Oesterreich neu angeknüpften Bund in warmer Rede gefeiert, und es galt nur noch, diesem Bunde auch ein äußeres Liebeszeichen aufzudrücken[WS 1].
Einen Kuß dem ganzen Land Tyrol! Wer anders durfte ihn geben, als eine Festjungfrau – den officiellen Festkuß? „Bitte, mein Fräulein, da – gerade neben Ihnen – steht der schmucke Stanni, Ihre Pflicht ruft! – Wie? Sie sträuben sich? Sie meinen, dieser Fall sei nicht im Festprogramm vorgesehen? Ei was, einen Kuß in Ehren kann Niemand verwehren, und dann – wer hat Ihnen je verboten, Länder zu küssen?“ Und siehe da – halb zog er sie, halb sank sie hin, und der officielle Festkuß ward zu einem warmen Freundschafts- und Abschiedskuß, wenn wir unserm Maler auch bemerken müssen, daß seine Auffassung vielleicht etwas zu intensiv ist. In diesem Augenblicke hatte sich der Stanni – wir bemerken hier beiläufig, daß wir den Taufschein Stanni’s nicht gesehen haben, und sollte er allenfalls „Tonerl“ heißen, so mag er Frankfurt, das ihn umgetauft hat, verklagen und nicht uns – gewiß nicht als „Schmerzenskind“ gefühlt. Mit einem dreifachen donnernden Hoch schloß die Geschichte des officiellen Festkusses beim ersten deutschen Bundesschießen, aber noch nicht der Abschied der Tyroler, denn es war noch einige Zeit bis zur Abfahrt. „Singt noch Eins, Ihr Tyroler, so ein herzig Abschiedslied!“ hieß es jetzt. Und sie bildeten einen Kreis und sangen mit dem ergreifenden Ausdruck, den ihre Stimmung ihnen eingab, ein improvisirtes Verslein, ungefähr so:
„Lebet wohl, lebet wohl, liebe Freunde,
Lebet wohl auf Wiedersehn.
O wie hart wär’ es nicht, auseinanderzugehn,
Wenn die Hoffnung nicht wär’, sich wiederzusehn!“
Und wie sie die letzten Töne so ausklingen ließen mit ihren weichen schmelzenden Stimmen, da zuckte es manchem Manne um die Wimpern, und um die Rührung nicht allzusehr aufkommen zu lassen, traten jetzt unsere Sänger zusammen und erwiderten den Scheidegruß. Und es kreiste so fröhlich der Becher in dem großen Kreise herum – da hieß es: Einsteigen, meine Herren! Einsteigen! Wie ein elektrischer Schlag ging’s noch einmal durch die ganze Kette der verschlungenen Hände, ehe der Strom unterbrochen, die Kette gelöst ward. Jetzt kommen noch Nachzügler, von der ganzen Familie ihres Wirthes escortirt. Zum neunundneunzigsten Male nehmen sie Abschied. In der zwölften Stunde erscheint ein junger schmucker Zillerthaler. An diesen „Stanni“ knüpft sich nun die Sage, daß in Folge des rühmlichen Beispiels der Festjungfrau noch manche andere nicht-officielle Festküsse und mit speciellerer Widmung von schönen Lippen gefallen seien.
Im vordersten Wagen spielte jetzt die von den Münchnern mitgebrachte Musik den Radetzkymarsch, auf dem Perron spielte die Frankfurter Musik, die Tyroler juchheiten und jodelten, die Zurückbleibenden riefen Hoch, die Locomotive pfiff aus Leibeskräften, und der Zug that endlich einen Ruck und dann noch einen und dann noch einen. Aber was ist das? Da fliegt ja ein Schlag wieder auf, und heraus stürzt abermals ein „Stanni“. Hat er etwas in [558] Frankfurt vergessen? Wenn es nur nicht sein Herz ist! In komischer Verzweiflung ruft er aus: „Es thut’s nit, es thut’s nit! I geh holt nimmer hoam!“ und lenkt seine Schritte wieder den Zurückbleibenden zu, die ihn jubelnd wieder in ihre Mitte nahmen und gen Frankfurt geleiteten. Und acht Tage später versuchte er wieder einmal abzureisen und war auch schon eingestiegen – aber es ging wieder nicht. Noch lange nachher blieb sein steter Wahlspruch: „I geh holt nimmer hoam!“ O, gäbe es schon Freizügigkeit in Deutschland, er hätte ihn gewiß auch zur Wahrheit gemacht. Denn, er wiederholte es selbst zum Oefteren: „Durch Begeisterung vom Schützenfest wäre er gar gerne Bürger in Frankfurt geworden.“ Durch Begeisterung allein aber wird man dermalen noch nicht Bürger in Frankfurt, eher durch eine Heirath, und auf dieser solideren Basis stehen denn auch wirklich bereits einige auswärtige Schützenbrüder ihr Frankfurter Bürgerrecht aufzubauen im Begriff. Sie wollen sich durch den eigenen Augenschein überzeugen, ob die Frankfurter Frauen ebenso liebenswürdig sind, als die Frankfurter Mädchen, und ob sie es bleiben, wenn sie ihre Frauen sind. Möge der deutsche Einheitsgedanke, unter dessen directer Inspiration die Verlobung stattfand, sich in der Ehe nachhaltig erweisen!
Aber nicht alle Festflammen fanden sich so zu einem legitimen Brande für’s Leben zusammen. Wir sahen die verlockendsten Anträge zurückweisen. Eines Abends kniete in der Festhalle vor einer sehr liebenswürdigen Dame wieder ein „Stanni“ nieder – sie versicherte uns nachher, wahrscheinlich um die Sache romantischer zu machen, es sei ein Enkel Andreas Hofer’s gewesen – und bat sie flehentlich um ihren Strauß. „Schau, hier ist Edelweiß auf meinem Hut. I bin zwei Stunden hoch hinauf gestiegen, bis i ’s im Eis funden hab. I geb Dir dös Edelweiß, gieb mir Dei Straußerl. I möcht’s halt mit heima nehm, dös Straußerl.“ Und als die Dame den Tauschhandel eingegangen war, war er noch nicht zufrieden, sondern rief plötzlich aus: „Weißt was, Schatzerl, geh sölber mit!“ Und als sie ihn fragte, was sie bei ihm zu erwarten habe, meinte er: „Nix als Freid. Den Tag über was Guts zu essen und am Abend was Guts zu schmatzen!“ Und Stanni schien nicht abgeneigt, Proben seines Talentes abzulegen. Er wurde immer wärmer und wärmer, bis ihm die Dame und Schützenschwester in’s Gedächtniß zurückrief: „Ritter, treue Schwesterliebe widmet Dir dies Herz.“
So drehte sich gar manche Scene um die Tyroler und ihre sprichwörtlich gewordene Naivetät. Die Schützen hatten sie durch ihre Kernschüsse erobert, die Mädchen und die Maler durch ihre kleidsame Tracht und ihr treuherziges Wesen, und die Gemüthlichen durch ihre Lieder. Wo ihrer ein paar beisammen waren, bildeten sich Gruppen um sie, und sie wurden aufgefordert, ihren „Tyroler Schmerzensschrei“ (d. h. ihre Jodler) ertönen zu lassen. Und sie sprangen auf die Tische und sangen:
„Frankfurt, Du, Du bist mei Freid!
Da hab’n d’ Madele sakrisch Schneid! (Und ein Jodler drauf!)
Zwar giebt’s ka Gamslen zum Derjagen,
Aber Becher zum Vertragen.“ (Wieder ein Jodler!)
Dann warfen sie ihre Hüte hoch, und die Damen schwenkten ihre Taschentücher, und Alles war ein Herz und eine Seele.
Einmal trat ein Tyroler zum Herzog von Coburg und sagte zu ihm: „Glab’s nit, Herzog, was sie Dir über uns weiß macht haben. Komm nur zu uns, Du wirst noch lang nit tod schossen!“ Und als ihn Einer zur Rede stellte, wie er den Herzog habe Du nennen können, meinte er: „Ja, i hätt halt gern Sie sagt, aber i hab mi’s nit traut!“
Aber die Medaille hatte auch ihre Kehrseite, der Tyrolercultus, wie er uns zum Vorwurf gemacht ward, auch sein Bedenkliches. Man vergaß ganz, daß diese jetzt fraternisirenden Festschützen Kinder desselben Landes Tyrol sind, wo man noch vor wenig Wochen Himmel und Hölle gegen die Zulassung von Protestanten in Bewegung gesetzt hatte; man vergaß, daß der Bischof von Brixen seiner Heerde, ehe er sie auf die Weide gehen ließ, erst Dispens für die Fasttage ertheilt hatte; man vergaß endlich, daß die urgemüthlichen Schmerzenskinder nicht nur von vier Feldkaplänen, sondern auch von zehn Polizeispitzeln sorgfältig überwacht wurden. Letzteres hat sich durch eine Scene auf der Bornheimer Haide zur Genüge herausgestellt. Ein Tyroler unterhielt sich in einer der Buden daselbst leise mit einem Frankfurter. Der Spitzel wollte es nicht leiden und suchte stets zu horchen und zu interveniren. Als er ernstlich gefragt wurde, mit welchem Rechte er sich in die Unterhaltung mische, suchte er zuerst allerlei Ausflüchte, dann aber, in die Enge getrieben, gestand er – er war überdies des süßen Weines nicht mehr leer – seine innere Mission ein. Als ihm in Folge davon sofort ziemlich unsanft zu einer Luftveränderung verholfen ward, rief der unglückliche Agent der kecken Ueberwachungsgarde noch unter der Thüre seinem Landsmanne zu: „Wart nur, wirst’s schon kriegen! Wir sind unser zehn. Und Preußen sind auch da!“
Ein andermal stand ein Trupp Tyroler vor dem zoologischen Garten. Sie wären gar zu gern hineingegangen, aber sie hatten ihrem Feldkaplan Rendezvous zur Messe gegeben, und da half kein Zureden. „Der Mensch muß doch Wort halten!“ sagte Einer, und leidmüthig zogen sie von dannen. Haben sie Euch denn je Wort gehalten, denen ihr so blind vertraut? Herr, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Sie sind zu lange in der Finsterniß gewandelt, um das ganze, das volle Licht, das von der Festhalle ausstrahlt, auf einmal vertragen zu können. Darum aber müssen sie öfters zu uns kommen und ohne geistliche und weltliche Feldkapläne. Darum aber auch müssen wir sie recht an uns zu ziehen und nicht von uns zu stoßen suchen! Dann wird’s schon besser gehen, und die Schützenfeste werden auch nach dieser Seite ihre Früchte tragen. Aber Geduld müssen wir freilich haben, viel Geduld! Denn sollte man’s für möglich halten, in der Nähe einer Stadt, in der man jetzt von den Erinnerungen an die beim Feste – wenn auch mitten unter Ketzern – verlebten Stunden schwelgt (in Schwaz bei Innsbruck), wäre der Gemeinderath vor wenig Tagen beinahe gesteinigt worden, weil er einen Protestanten aufnehmen wollte. Wie stimmt das zu dem herzlichen Abschied, Ihr Tyroler, den Ihr uns an der Eisenbahn in die Hand gedrückt habt?
Also, Ihr Tyroler, wenn wir Eure Herzlichkeit nicht für Grimasse, Euch selbst nicht für unmündige Kinder halten sollen, so sorgt dafür, daß Eure Worte und Eure Thaten eins werden.
Ohne daß wir’s wollen, hat unser Rückblick auf die kleinen gemüthlichen Episoden des Festes eine ausgesprochen tyrolische Färbung angenommen. Es ist das nicht unsere Schuld, sondern lediglich die der gemüthlichen Tyroler, die stets neuen Stoff zu Erzählungen aller Art gaben, die von Mund zu Mund liefen. Dabei fällt mir noch eine Geschichte ein, die auf der Heimreise der Tyroler in Nürnberg passirt ist. Hoffentlich haben wir Alle so viel gelernt, daß sie heute nicht mehr passiren könnte. Die Geschichte aber wird in den Zeitungen also erzählt:
Dem Waggon entstieg ein alter Tyroler in der Tracht des Pusterthales, ein durchwettertes joviales Gesicht mit eisengrauem dichten Lockenhaar und Bart, ein straffer Mann, kein Greis; noch prall schlossen die kurzen Ledernen um die Beine, das nackte Knie war rund und die Wade derb muskulös; sein Adlerblick richtete sich auf die Menge und begegnete dem ebenso durchdringenden eines freundlich behäbigen Greises mit Silberhaar. „Hast, bi Gott, ein Jägeraug!“ sprach der Tyroler ihn an; „warum warst nit mit in Frankfurt? Du schießt gewiß noch gut!“ „O ja, Anno Neun aber noch besser, da habe ich von Euch Manchen weggepfeffert.“ „Woas? Du? Warst mit unter den Blauen? Na, haben Euch tüchtig zusammengebuchst!“ „Das ist nit unwahr, an einem Tag aber net, da schossen wir ihrer Drei sieben von Euch zusammen, und doch standet Ihr oben und wir unten. Ich war einer von den Dreien.“ „Wo ist das gewesen, Brüderle?“ fragte der Tyroler sichtbar gespannt. „Bei Windisch-Materney; ich schoß den Gastwirth.“ „Todt geschossen hast ihn aber nit, Brüderle; schau her, ich bin’s noch!“ Und er zeigte die Narbe an Hals und Schulter, und dann schüttelten sich die alten Knaben herzlich lachend die Hände; der Tyroler küßte den Blauen und der Blaue den Tyroler, und Arm in Arm besahen sie sich die Lorenzkirche und tranken schwatzend manche Halbe, ich mit ihnen. Anton Köll, Gastwirth und Bauer, sagte beim Abschiede zu dem jetzt im Hospital versorgten Schneidermeister Zieger: „Hast recht, Brüderle; kommen wohl nit wieder z’ammen, so aber wie Anno damals gewiß nit; wußtens da nit anders, warst neunzehn und ich einundzwanzig; aber wenn ich auch noch mal wieder so jung wär, ich zerbräch den Stutzen, sollt ich auf einen deutschen Bruder schießen, das thu ich nimmer, das hab ich in Frankfurt gelernt; o was prächtige Leut da waren! Ich alter Schulbub von vierundsiebzig, und hier meine beiden Nachbarn (Athletengestalten in der ersten Mannesblüthe) auch.“
Wir könnten Ihnen auch noch die Anekdote von dem Preußen erzählen, der auf die Scheibe „Vaterland“ schoß, Nichts traf, denn [559] – meinte der neben ihm stehende Tyroler: „Dein Vaterland muß größer sein“; wir könnten Ihnen die reizende Scene der Verbrüderung unserer Turnerknaben mit den schweizerischen Cadettentrommlern näher ausmalen, und ebenso, wie des sächsischen Amnestirten Röckel blühende Tochter ihrem Vater um den Hals fiel, als Karl Grün seiner in seiner Rede auf die Todten gedachte – doch wir wollen Ihre Geduld nicht länger auf die Probe stellen und über dem Einzelnen nicht das Ganze vergessen.
Die deutsche Gemüthlichkeit, von der wir heute allerlei Pröbchen gegeben haben, thut’s allein nicht mehr. Das fühlen wir Alle – aber indem wir neue Eigenschaften uns zu erwerben trachten, wollen wir die alten nicht verlieren.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: aufzu-/zudrücken