„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich etc.“

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Autor: Dr. Mordtmann (Andreas David Mordtmann)
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Titel: „Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich etc.“
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aus: Die Gartenlaube, Heft 10, S. 151–153
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich etc.“


Der Beifall, mit welchem die verschiedenen Erläuterungen zu dem Leben und den Werken unserer Dichterfürsten von den Lesern der Gartenlaube aufgenommen sind, hat mich ermuntert, einen kleinen Beitrag zu liefern, in der Hoffnung, daß auch diese Kleinigkeit dazu dienen möge, die unvergänglichen Werke dieser Heroen als einen unerschöpflichen Schatz dem deutschen Volke lieb und werth zu machen. Indem ich die historische Unterlage des in der Ueberschrift angedeuteten Gedichtes zum Gegenstand dieses Aufsatzes mache, beginne ich zunächst mit derjenigen Darstellung , welcher Schiller unmittelbar den Stoff entnommen hatte. Sie befindet sich in dem Fabelwerke des Hyginus, eines Schriftstellers, der vermuthlich gegen Ende des vierten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung lebte. Derselbe erzählt:

„Mörus wollte den grausamen Tyrannen Dionysius von Sicilien tödten, weil derselbe seine Unterthanen auf mannigfache Weise quälte. Die Leibwachen aber ergriffen ihn und führten ihn mit seiner Waffe zum Könige, auf dessen Frage erklärte er, er habe den Tyrannen tödten wollen, worauf der König befahl, ihn zu kreuzigen. Mörus bat um eine Verzugsfrist von drei Tagen, damit er seine Schwester verheirate; er werde seinen Freund und Gefährten Selinuntius stellen, der sich für seine Rückkehr bis zum dritten Tage verbürge. Der König gewährte ihm dieses und sagte zum Selinuntius, daß, falls Mörus nicht an dem bestimmten Tage käme, er dessen Strafe erleiden müsse, wogegen Mörus frei wäre. Nachdem Mörus seine Schwester verheirathet hatte, kehrte er zurück, aber ein plötzlicher Gewitterregen hatte den Fluß so angeschwellt, daß es unmöglich war ihn zu durchwaten oder hinüberzuschwimmen. Mörus setzte sich am Ufer nieder und beweinte seinen Freund, der nun für ihn sterben müsse. Inzwischen befahl Dionysius den Selinuntius zu kreuzigen, weil es schon sechs Uhr des dritten Tages sei und Mörus sich noch nicht gemeldet hätte. Selinuntius entgegnete, der dritte Tag sei noch nicht zu Ende. Um neun Uhr befahl der König abermals, den Selinuntius zu kreuzigen. Unterwegs holte Mörus, der den Fluß glücklich passirt hatte, den Henker ein, und rief ihm von Weitem zu. ‚Halt, Henker, ich, der Verbürgte, bin angekommen.’ Auf diese Nachricht ließ Dionysius Beide vor sich führen und bat sie, ihn als Freund aufzunehmen.“

Polyän, ein Schriftsteller, welcher ungefähr um das Jahr 160 in Rom lebte, giebt eine etwas abweichende Darstellung. Er berichtet wie folgt:

Einige eifrige Anhänger des Pythagoras waren von Parium (in Mysien am Marmara-Meere, jetzt Kemer genannt) nach Italien gekommen, wo sie sich aufhielten. Dionysius, Tyrann von Sicilien, ließ den Metapontinern und anderen italienischen Städten seine Freundschaft anbieten. Evephenus aber rieth seinen jungen Zuhörern und ihren Eltern, dem Tyrannen auf keine Weise zu trauen. Darüber aufgebracht, ließ Dionysius ihn aufgreifen und von Metapont nach Rhegium bringen und ihm vor dem dortigen Gericht den Proceß machen, weil er sich in staatsgefährliche Umtriebe eingelassen hätte. Evephenus erklärte, er habe hierin recht gehandelt, jene jungen Leute wären seine Freunde und Zöglinge, auf den Tyrannen aber habe er gar keine Rücksicht zu nehmen. Er wurde demnach zum Tode verurtheilt. Unerschrocken sagte er zum Dionysius: ‚Ich unterwerfe mich dem Urteilsspruche, da ich aber in Parium noch eine unversorgte Schwester habe, so möchte ich vorher nach meiner Heimath schiffen und die Aussteuer der Schwester besorgen, dann werde ich unverweilt zurückkehren und sterben.’ - Alle lachten über diese Rede, Dionysius aber fragte verwundert, welche Sicherheit er bieten könnte. Er antwortete: ‚Ich werde Dir einen Bürgen für meinen Tod stellen,’ und ließ den Eukritus kommen, den er um diese Bürgschaft ersuchte. Eukritus erklärte sich sofort bereit, diese Bürgschaft zu übernehmen, und es wurde ausgemacht, daß jener abreisen könnte und nach sechs Monaten zurückkehren, dieser aber bis dahin in Haft bleiben müßte. Das war eine wunderbare Sache, noch wunderbarer aber das, was nachher geschah. Denn nachdem Evephenus seine Schwester ausgesteuert hatte, kehrte er nach sechs Monaten nach Sicilien zurück, stellte sich den Behörden und bat, man möchte den Bürgen entlassen. Dionysius, über solche Tugend ganz entzückt, schenkte Beiden die Freiheit, ergriff sie bei der Hand und bat, sie möchten ihn als Dritten in ihren reundschaftsbund aufnehmen und mit ihm seine Glücksgüter theilen. Jene wurden nun Anhänger des Tyrannen, baten aber, da er ihnen das Leben geschenkt hätte, um die Erlaubniß zu ihren gewohnten Beschäftigungen mit der Jugend zurückzukehren. Dionysius willigte ein, und dieses Ereigniß veranlaßte viele Italioten, dem Dionysius Zutrauen zu schenken.“

Aus dieser Darstellung geht hervor, daß Polyän unzweifelhaft den älteren Dionysius im Sinne hatte, während die folgende Erzählung das Ereigniß dem jüngern Dionysius zuschreibt. Ich mache noch darauf aufmerksam, wie in Vorstehendem schon ein schwacher Versuch vorliegt, das Ereigniß mit dem Morgenlande in Verbindung zu bringen, indem Polyän die beiden Freunde zu Pariern macht. Jamblichus und Porphyrius, Biographen des Pythagoras, geben nach Erzählungen von Zeitgenossen folgende Darstellung des Hergangs:

„Die Pythagoräer lehnten jede Freundschaft mit Anderen entschieden ab, bewahrten aber gegen einander Jahrhunderte lang eine unverletzte Freundschaft und Liebe, wie aus dem erhellt, was Aristoxenus in seinem Leben des Pythagoras berichtet. Derselbe sagt, als Dionysius, Tyrann von Sicilien, in Korinth Schullehrer war, habe er von ihm Folgendes gehört. Dionysius, sagte er, erzählte uns oft, daß der Pythagoräer Damon sich für den zum Tode verurtheilten Phintias verbürgt habe. Einige Höflinge machten sich bei verschiedenen Gelegenheiten über die Pythagoräer lustig, indem sie sagten, es wären nur Großprahler, und ihre angebliche Würdigkeit, Treue und Unempfindlichkeit würde bei einer ernstlichen Gefahr nicht Stand halten. Da jedoch andere diesen Behauptungen widersprachen, so beschloß man, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Es wurde ein Angeber angewiesen, den Phintias der Theilnahme an einer Verschwörung gegen das Leben des Dionysius zu beschuldigen, es wurden Zeugen vorgeführt und die Anklage wurde mit allen möglichen Scheingründen unterstützt. Phintias gerieth darüber in Bestürzung, als Dionysius ihm aber ausdrücklich erklärte, die ganze Sache sei schon erforscht und untersucht, und er müsse sterben, bat er, da es nun einmal so weit gekommen sei, man möge ihm den Rest des Tages gestatten, damit er seine und Damon's Angelegenheiten ordne. Diese beiden Männer lebten nämlich in Gütergemeinschaft, und Phintias, als der ältere von ihnen, hatte die Verwaltung ihrer Angelegenheiten übernommen, man möge ihn also einstweilen entlassen, wogegen er Damon als Bürgen stelle. Verwundert fragte Dionysius, ob es irgend einen Menschen gäbe, der sich für einen zum Tode Verurtheilten verbürge, und da Phintias bei seiner Erklärung beharrte, wurde Damon geholt. Als dieser von dem Vorgefallenen in Kenntniß gesetzt war, erklärte er sich bereit, die Bürgschaft zu übernehmen und bis zur Rückkehr des Phintias dort zu bleiben. Dionysius sagte, er sei darüber ganz erstaunt gewesen, die Anstifter des Versuches aber hätten den Damon verhöhnt, der sich gleichsam zu einem Sündenbock mache. Als aber die Sonne sich schon zum Untergang neigte, stellte sich Phintias ein, um zu sterben, zum Erstaunen und zur Enttäuschung aller Anwesenden. Dionysius aber umarmte und küßte die beiden Männer und bat, sie möchten ihn als Dritten in ihren Freundschaftsbund aufnehmen, was sie jedoch ganz entschieden ablehnten. So weit Aristoxenus.“

Ich übergehe die kürzeren Darstellungen des Diodor und römischer Schriftsteller, wie des Cicero, Lactantius und Valerius Maximus, da sie nur geringfügige Abänderungen der hergebrachten Erzählung enthalten. Dagegen kann ich noch zwei anderweitige Berichte über [152] dasselbe Ereigniß aus dem Morgenlande beibringen, welche schon deshalb, weil sie die Sache aus einem anderen Gesichtspunkte auffassen, von Interesse sein dürften.

In der Stadt Hira, in der Nähe des alten Babylon, am Euphrat, herrschte ein König mit Namen Numan Abu Kabus, als Vasall des Königs Chusrav Parviz von Persien, gegen das Jahr 600 unserer Zeitrechnung. Obgleich das Christenthum schon frühzeitig nach Babylonien vorgedrungen war, so hatte es doch nur geringe Fortschritte in jenen Gegenden gemacht; die persische Regierung zeigte sich demselben von jeher feindselig und die Mehrzahl der Bewohner Hira's waren Heiden, mit ihnen der König. Dieser mochte eben nicht viel mit Regierungssorgen gequält sein; das Vielregieren war damals überhaupt noch nicht Mode und ist es bei den Arabern nie gewesen; um seine müßigen Stunden, deren er des Tags ungefähr vierundzwanzig hatte, auf eine angenehme Weise auszufüllen, hatte er sich ein paar gute Freunde ausgesucht, mit denen er sich täglich berauschte. Einmal aber scheint er dem Weine mehr zugesprochen zu haben als gewöhnlich, und befahl in seinem Rausche, seine beiden Zechgenossen lebendig zu begraben, ein Befehl, der nur zu pünktlich ausgeführt wurde. Nach der Ernüchterung empfand er eine große Reue; der Tag, an welchem er sich so weit vergangen hatte, galt ihm als ein Unglückstag; so oft derselbe wiederkehrte, brachte er ihn am Grabe seiner Zechgenossen zu, und Niemand durfte sich ihm dort bei Todesstrafe nähern.

Eines Tages verirrte er sich auf der Jagd und kam in das Zelt eines Arabers vom Stamme Tai, den er um Gastfreundschaft bat; nach echt arabischer Weise nahm der Tajite ihn auf, ohne sich nach der Herkunft und dem Stande seines Gastes zu erkundigen, und als Numan am folgenden Morgen beim Abschiede sich zu erkennen gab und ihm erlaubte, sich irgend eine Gnade zu erbitten, erwiderte er freimüthig: für jetzt brauche er nichts; sollte dies aber später der Fall sein, so werde er nicht ermangeln sich an ihn zu wenden. Numan ritt fort, und nach einiger Zeit traf es sich wirklich, daß der Tajite sich in großer Verlegenheit befand. Auf Zureden seiner Frau begab er sich nach Hira, aber es war gerade der Unglückstag Numan's. Der Tajite, der von diesem Umstande nichts wußte, ging zu ihm und brachte sein Anliegen vor; der König fühlte sich sehr bedrängt; einerseits wollte er sein Gelübde nicht verletzen, andererseits waren ihm die Rechte der Gastfreundschaft zu heilig, als daß er den Ankömmling, der ihn um Hülfe anflehte, umbringen lassen sollte. Er wählte einen Mittelweg und bot ihm an, nach Hause zurückzukehren und seine irdischen Angelegenheiten zu ordnen und nach einer bestimmten Frist wieder zu kommen, um hingerichtet zu werden; doch sollte er als Unterpfand seiner Rückkehr einen Bürgen stellen. Ein Höfling übernahm die Bürgschaft und ließ sich in's Gefängniß führen. Die Zeit war bis aus einen Tag verstrichen, die Anstalten zur Hinrichtung wurden getroffen, und noch war der Tajite nicht angekommen; schon neigte sich auch dieser letzte Tag zum Untergange und Numan war im Begriff, die nötigen Befehle zu ertheilen, als einer seiner Beamten ihm bemerklich macht, er müsse wenigstens das Ende des Tages abwarten. Wirklich kam der Tajite noch Abends an, zum großen Verdruß Numan's, der ihn anfuhr. „Wer hat Dich wiederkommen heißen, nachdem ich Dich habe gehen lassen?“ Ruhig antwortete der Tajite: „Meine Religion.“ - „Welche Religion?“ fragte Numan; der Araber sagte ihm, er sei ein Christ. Numan war begierig, eine solche Religion kennen zu lernen; die Hinrichtung wurde aufgeschoben und der König ließ sich mit seiner ganzen Familie taufen. Von einer ferneren Feier des Unglückstages, von einer Hinrichtung des Tajiten oder seines Bürgen war nicht weiter die Rede.

So lautet die Erzählung bei Meidani in seinem großen Werke über die Sprüchwörter der Araber. Die Bekehrung Numan's zum Christenthum ist eine historisch beglaubigte Thatsache, und wenn wir auch die Erzählung Meidani's über die Beweggründe dieser Bekehrung als einen Mythus oder als eine phantastische Anknüpfung an die Freundschaft der Pythagoräer ansehen wollen, so bin ich doch überzeugt, daß die große Mehrzahl meiner Leser ihr den Vorzug vor der albernen Erzählung des Syrers Amru geben werde. Dieser behauptet nämlich, Numan sei einst vom Teufel besessen gewesen, und nachdem seine heidnischen Opferpriester die Heilung vergebens versucht hätten, wäre er durch die inbrünstigen Gebete des Bischofs Simeon von Hira, des Bischofs Sabarjesu von Laschum und des Mönchs Jesuzacha geheilt worden, worauf er und seine beiden Söhne Mundir und Hassan das Christenthum angenommen hätten.

Die Erzählung Meidani's scheint in Deutschland wenig bekannt zu sein, obgleich sie schon vor mehr als zweihundert Jahren übersetzt und gedruckt worden ist in dem Buche „Specimen Historiae Arabum“ von E. Pocock, Oxford 1650. Dagegen las ich kürzlich in einer arabischen Handschrift noch eine andere Erzählung, welche von der vorstehenden in mehreren wesentlichen Punkten abweicht; sie lautet wie folgt:

In der Nähe von Medina hatten zwei Araberstämme ihre Wohnungen aufgeschlagen. Eines Tages war ein Kameel, Eigenthum eines Arabers von dem einen Stamme, in einen Garten der zum andern Stamme gehörte, eingedrungen und hatte dort die Eier einer Henne zertreten. Der Eigenthümer des Gartens tödtete das Kameel, und der Eigenthümer des Kameels tödtete diesen dafür. Darüber entstand ein Zwist, der endlich dem Kalifen Omer vorgetragen wurde. Omer ließ den Mörder und die Angehörigen des Ermordeten in die Rathsversammlung kommen, und da der Mörder seine That eingestand, der Vorwand des getödteten Kameels aber als zu geringfügig angesehen wurde, so lautete der Urteilsspruch des Gerichts auf Todesstrafe, die auch sogleich vollzogen werden sollte.

Der Mörder unterwarf sich willig dem Ausspruche, bat aber um einen Aufschub, damit er nach Hause gehen und dort seine Familienangelegenheiten ordnen könnte. Omer fragte ihn, welche Sicherheit er für seine freiwillige Rückkehr bieten könnte. Ohne sich lange zu besinnen, wandte sich der Mörder an einen der Richter und bat ihn um die Bürgschaft. Dieser erklärte sich auch sofort bereit, diese Bürgschaft zu übernehmen und, falls der Mörder nach abgelaufener Frist nicht zurückkehren würde, für ihn der Familie des Ermordeten den Preis des vergossenen Blutes mit seinem eigenen Blute zu zahlen. Der Mörder wurde also entlassen, der Bürge dagegen in's Gefängniß abgeführt.

Am letzten Tage der Frist war der Verurtheilte noch nicht erschienen, und Omer ertheilte Befehl, den Bürgen zu enthaupten, falls der Mörder vor Sonnenuntergang nicht zurückgekehrt sein würde. Schon waren alle Anstalten getroffen, das Schwert und der Scharfrichter bereit, die Sonne neigte sich zum Untergange, als die Thorwächter von Medina schon von Weitem den Mörder in voller Eile heranlaufen sahen. Athemlos stürzte er zur Stadt hinein, stellte sich dem Kalifen und verlangte dringend, daß der Bürge freigelassen würde. Voller Erstaunen über eine solche unerschütterliche Treue befahl der Kalife den Bürgen vorzuführen, denn das ganze Ereigniß schien ihm so außerordentlich, daß er sich näher darüber unterrichten wollte. Er fragte den Bürgen, in welchem Verhältniß er zu dem Verbürgten stehe, der Bürge erklärte, er habe diesen Menschen vorher nie gesehen oder gekannt. „Und was konnte Dich veranlassen, Dich für einen Mörder zu verbürgen, den Du vorher gar nicht gekannt hast?“ fragte Omer. „Ich wußte,“ entgegnete dieser, „daß er als ein wahrer Moslim sein Wort halten würde“ - „Und Du,“ sich an den Verurtheilten wendend, „was veranlaßte Dich, einen Menschen, den Du vorher nie gekannt hast und der Dich zum Tode verurtheilt hat, um eine solche Bürgschaft anzusprechen?“ - „Während des Verhörs machten die Gesichtszüge dieses Richters auf mein Gemüth einen solchen Eindruck, daß ich mich unwillkürlich gefesselt fühlte, und als ich von Dir aufgefordert wurde, einen Bürgen für meine Rückkehr zu stellen, wandte ich mich an ihn in der festen Ueberzeugung, daß er als wahrer Moslim einem Moslim diese Gefälligkeit nicht verweigern würde.“ - Der Kalife bewunderte diese echt islamitische Gesinnung, die jeden Gläubigen als einen Bruder anzusehen befiehlt, und indem er dem Mörder die Todesstrafe erließ, sorgte er dafür, daß den Angehörigen des Ermordeten der Blutpreis in Kameelen und Schafen ausgezahlt wurde.

Es ist hier nicht der Ort, zu untersuchen, welche von diesen Erzählungen der historischen Wahrheit gemäß ist, oder ob sie alle nur Nachklänge und Ausschmückungen eines noch älteren Ereignisses sind, ebenso wenig fühle ich mich berufen, zu erörtern, ob die Pythagoräer diese Erzählung durch Vermittelung ihrer Verbindungen mit dem Morgenlande nach Europa gebracht und ihrer Lehre zugeeignet haben, oder ob die christlichen oder mohammedanischen [153] Araber von Hira und Medina die That des Pythagoräers zur Verherrlichung des Christenthums oder des Islams verwerthet haben; oder endlich, ob sich ein ähnliches Ereigniß im Laufe der Zeiten an verschiedenen Orten wiederholt habe. So viel scheint aber jedenfalls gewiß zu sein, daß der Vorfall an sich eine historische Thatsache ist und das Außerordentliche dieser Thatsache im Alterthum einen solchen Eindruck gemacht hat, daß nicht weniger als drei Religionen sich die Ehre dieser That anzueignen versucht haben. Die Möglichkeit einer Wiederholung desselben Vorfalles zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern ergiebt sich noch aus der folgenden Erzählung.

Der König Chusrav Nuschirevan, welcher von 531 bis 579 nach Christi Geburt in Persien regierte und einer der ausgezeichnetsten Fürsten war, ließ in seiner Residenzstadt Ktesiphon, in der Nähe des heutigen Bagdad, am Tigris einen prachtvollen Palast erbauen, dessen Trümmer bis auf den heutigen Tag noch vorhanden sind; einer meiner hiesigen Bekannten, ein Bagdader Namens Mehemed Aga, der in der Welt viel umhergereist ist, erzählte mir, er habe als Knabe oft in den Räumen dieses Palastes gespielt und die außerordentliche Härte des zum Bau verwendeten Holzes bewundert, in welches kein Nagel eindringen könne; später habe er auf seinen Reisen in Indien den Baum gesehen, von welchem das Holz herrühre, und erfahren, daß die Engländer dieses Holz (Teakholz) zum Bau ihrer Schiffe verwenden. Ueber den Bau erzählte er mir eine Geschichte, die mir schon aus Mirchond und aus Mohammed Aufi, einer Handschrift der Hamburger Stadtbibliothek, bekannt war. Diese Erzählung lautet: Eines Tages habe ein Gesandter des griechischen Kaisers diesen Palast besehen und seine Führer auf eine Unregelmäßigkeit in der Anlage aufmerksam gemacht. Man sagte ihm, die Unregelmäßigkeit rühre davon her, daß in der Nähe des Gebäudes eine alte Frau, Namens Zal Madain, eine kleine Wohnung hatte, welche sie dem König nicht abtreten wollte, obgleich dieser ihr eine namhafte Summe dafür anbot. „König,“ sagte sie, „möge Deine Herrschaft, Dein Reichthum und Deine Macht bis an’s Ende dauern, damit ich täglich auf Deine Gerechtigkeit schauen und in ihrem Schatten mein Tagewerk vollbringen könne.“ Chusrav, welcher von seinen Untergebenen die strengste Gerechtigkeit verlangte, wagte es nicht ein böses Beispiel zu geben; er ließ die Alte ruhig im Besitz ihrer Wohnung, und wenn die Kuh, von welcher sie ihren Unterhalt hatte, die Hallen des Palastes beschmutzte, so pries man den gerechten Sinn des Königs. Der Gesandte rief aus: „Diese Unregelmäßigkeit, verbunden mit Gerechtigkeit, ist eine schönere Zierde, als eine durch Gewaltthätigkeit erzielte Symmetrie.“

So weit die Erzählung meines Gewährsmannes, zu deren Beglaubigung der ehemalige englische Consul Rich in Bagdad die Erläuterung giebt, daß an der dem Flusse zugekehrten Seite des Palastes ein Theil des Mauerwerkes augenscheinlich dem ursprünglichen Plane fremd sei, obgleich sich oberhalb desselben eine Reihe von Nischen befindet. Diese Mauer gehörte also eigentlich zu dem Hause der Alten, und da der Palast ihr jeden andern Ausweg versperrte, so mußte sie mit ihrer Kuh jedesmal durch die große Halle in der Mitte des Palastes gehen, wo der König öffentliches Gericht hielt. Friedrich der Zweite und der Müller von Sanssouci sind historische Personen aus der neuesten Zeit, aber die Handschrift des Mirchond auf der Pariser Bibliothek, aus welcher Silvestre de Sacy übersetzte, und die Handschrift des Mohammed Aufi auf der Hamburger Stadtbibliothek (Nr. 190 und 191), aus welcher ich übersetzte, waren lange vor der Geburt des großen Friedrich und des Müllers von Sanssouci geschrieben.

Dr. Mordtmann in Constantinopel.