ADB:Charlotte Christine Sophie

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Artikel „Charlotte Christine Sophie, Kronprinzessin von Rußland“ von Ferdinand Spehr in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 103–105, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Charlotte_Christine_Sophie&oldid=- (Version vom 28. März 2024, 15:35 Uhr UTC)
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Charlotte Christine Sophie, Kronprinzessin von Rußland, Gemahlin des Großfürsten Alexei Petrowitsch, Sohnes Peter des Großen, geb. zu Wolfenbüttel 28. August 1694, † 1715, war die zweite Tochter des Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel und der Herzogin Christine Louise, geb. [104] Prinzessin von Oettingen. In ihrem siebenten Jahre kam sie zu ihrer Tante und Pathin, der Kurfürstin Christine Eberhardine von Sachsen, der Gemahlin des Kurfürsten August des Starken, Königs von Polen, von der sie mit mütterlicher Sorgfalt erzogen und bei welcher sie in ihrem vierzehnten Jahre im lutherischen Glaubensbekenntnisse confirmirt wurde. Peter der Große wünschte seine Dynastie durch Verheirathung seines Sohnes Alexei mit einer Prinzessin aus einem angesehenen deutschen Fürstenhause auch im Auslande zu befestigen und im Inlande zugleich das Herkommen zu brechen, nach welchem bisher die russischen Herrscher ihre Gemahlinnen aus den Töchtern der eingeborenen Großen wählten. Zwei in seinen Diensten stehende Diplomaten, Baron v. Urbich und Baron v. Huyssen, lenkten die Aufmerksamkeit Peter des Großen auf die zweite Tochter des Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel, Prinzessin Charlotte. Der Großvater derselben, der regierende Herzog Anton Ulrich, ein ehrgeiziger, ruhmsüchtiger und unternehmender Herr, ergriff die ihm durch Urbich gemachten Vorschläge mit Begierde; der Gedanke, durch eine Verbindung mit dem mächtigen Zaren seine geheimen Wünsche und Pläne in Erfüllung gehen zu sehen, ließ ihn alle Hindernisse überwinden, welche besonders die Mutter der Verbindung entgegensetzte. In Karlsbad, welches der Zarewitsch Alexei im Sommer 1711 besuchte und wohin auch die Prinzessin Charlotte in Begleitung ihrer Tante, der Königin von Polen, gereist war, sahen sich der Großfürst und die Prinzessin zum ersten Male. Der Eindruck, den beide gegenseitig auf sich machten, war günstig und Herzog Anton Ulrich hielt sich für berechtigt, möglichst rasch einen Vertrag mit dem russischen Hofe abzuschließen. Peter der Große gab seine Einwilligung zu der Heirath, worauf Alexei bei der zu Torgau residirenden Königin von Polen um die Hand der Prinzessin anhielt und der Graf Golowkin im Auftrage des Zaren und des Großfürsten sich nach Wolfenbüttel begab, um die Einwilligung des Großvaters und der Eltern der Braut einzuholen, welche mit Freuden von dem Großvater, mit Zagen von den Eltern ertheilt wurde. Es wurde ein aus 17 Punkten bestehender Ehecontract aufgenommen, in welchem Peter der Große es seiner künftigen Schwiegertochter und ihrem Hofstaate freistellte, „falls sie es wünsche“, Zeit ihres Lebens im lutherischen Glauben zu verbleiben, und durch welchen das Jahreseinkommen, wie das etwaige Witthum der Prinzessin genau festgestellt wurde. Auf das besondere Verlangen Peters, welcher nach der in Karlsbad gebrauchten Cur möglichst schnell nach Rußland zurückzukehren wünschte, wurde die Hochzeit am 14./25. October 1711 zu Torgau bei der Königin von Polen nach dem Ceremoniel der griechischen Kirche feierlich vollzogen und nach kurzem Besuche bei den Eltern begab sich die Kronprinzessin Anfangs December desselben Jahres nach Thorn zu ihrem dorthin vorangegangenen Gemahl. Anfangs schien die Ehe einen glücklichen Verlauf zu nehmen; die 17 Jahre alte Prinzessin glaubte an die Liebe ihres Gemahls, aber dieser war ihr mit seinem kleinmüthigen, sorglosen aber reizbaren Charakter in ihrer ränkesüchtigen, geldgierigen und verwöhnten Umgebung keine Stütze. Zudem hielt er sich gewöhnlich im russischen Lager in Holstein auf. Nach einem längeren Aufenthalte in Elbing und einem Abschiedsbesuche bei ihren Eltern begab sich Prinzessin Ch. Anfangs des J. 1713 nach Petersburg, wo sie mit großen Feierlichkeiten empfangen wurde. Weder Peter der Große noch ihr Gemahl waren bei ihrer Ankunft in Petersburg anwesend. Alexei befand sich in Ladoga, um die Schiffsbauten zu überwachen, und kehrte erst in der Mitte des Sommers zurück, wo er seine Gemahlin nach einjähriger Trennung wieder sah. Obgleich Peter seiner Schwiegertochter bis zu ihrem Tode mit zärtlicher Liebe zugethan war, ihr eine aufrichtige Zuneigung bewies und sie mit Freundlichkeiten überschüttete, auch ihr Gatte in der ersten Zeit sie sehr gut und zärtlich behandelte, fühlte [105] doch die junge Fürstin sich in der ihr fremden und intriganten Umgebung nicht behaglich, bald sogar unglücklich, da die Zuneigung ihres Gatten, der nicht Willenskraft genug hatte, seine Gewohnheiten und Ansichten dem Vater und der Gattin zum Opfer zu bringen, mehr und mehr schwand, dagegen dessen Neigung zu Ausschweifungen und zur Trunksucht immer mehr zunahm. Die Gleichgültigkeit gegen die Gattin wuchs derartig, daß Alexei in der Trunkenheit mehrmals sich thätlich an derselben vergriff, was er freilich später jedesmal bedauerte und bereute. Das freudenlose Familienleben wurde etwas verschönt durch die Geburt einer Prinzessin, welche den Namen Natalie erhielt, am 12./23. Juli 1714. Alexei zeigte gegen seine Tochter eine wahrhaft zärtliche Liebe. Am 12./23. Oct. 1715 erfolgte die Geburt eines zweiten Kindes, eines Prinzen, des nachherigen Kaisers Peter II. Einige Tage nach der Entbindung trat bei der Kronprinzessin ein heftiges Fieber ein, so daß ihr Zustand bald die ernstesten Besorgnisse und Befürchtungen erregte. Der Zar Peter, welcher selbst krank war, schickte den Fürsten Menzikoff nebst vier Aerzten, welche jedoch die Kronprinzessin sterbend fanden. Um Mitternacht vom 21. auf den 22. October verschied sie in den Armen ihres in Thränen aufgelösten Gemahles. Tags darauf ließ Peter d. Gr. die Section der Leiche vornehmen und war selbst bei derselben zugegen. Am 27. October fand das Leichenbegängniß der Verstorbenen, welche bis zuletzt dem lutherischen Glaubensbekenntnisse treu geblieben war, statt. Die Leiche wurde in der noch im Bau begriffenen Kirche St. Petri und Pauli in der dazu erbauten Gruft eingesenkt. – Ungefähr 50 Jahre nach dem Tode der Prinzessin Ch. entstand eine weitverbreitete Sage, nach welcher dieselbe nicht in Rußland gestorben sein soll. Ein im J. 1777 in französischer Sprache erschienenes Buch behauptete, daß Charlottens Sarg, statt der vermeintlichen Leiche, eine Holzpuppe enthalten habe, während die lebende Prinzessin unter vielfachen Gefahren nach Louisiana, welches eben von Europa colonisirt wurde, geflohen sei. Hier habe sie einen französischen Officier, Namens d’Auban, geheirathet, mit dem sie später nach Paris gekommen sei, wo sie der Marschall von Sachsen, dessen Mutter bei der Flucht aus Rußland behülflich gewesen sei, erkannt habe. Dann sei sie mit ihrem Gemahl nach der Insel Bourbon gegangen, und nach dem Tode desselben nach Europa zurückgekehrt, wo sie verborgen in Paris und Brüssel gelebt und von ihrer Nichte, der Kaiserin Maria Theresia, wie von dem braunschweigischen Hofe eine Pension erhalten und solche bis zu ihrem Tode größtentheils den Armen gegeben habe. Diese durch unzweifelhafte Actenstücke längst widerlegte Sage hat Zschokke Veranlassung zu seiner reizenden, anmuthigen Erzählung: „Die Prinzessin von Wolfenbüttel“ gegeben, wie sie dann auch zu der von Charlotte Birch-Pfeiffer gedichteten und vom Herzoge Ernst von Sachsen-Coburg componirten Oper „Sta. Chiara“ den Stoff geliefert hat.

Vgl. Die Kronprinzessin Charlotte von Rußland, Schwiegertochter Peter des Großen, nach ihren noch ungedruckten Briefen. 1707–1715. Bonn 1875.