ADB:Finsler, Georg
Zwingli beginnenden, den Amtstitel eines Antistes tragenden Vorsteher der zürcherischen Kirche, war F. der Sohn des 1838 in den kräftigsten Mannesjahren verstorbenen Pfarrers Georg F., der als Geistlicher der Gemeinde Wangen (im Kanton Zürich) insbesondere auch einen neuen Katechismus im Auftrage der zürcherischen Kirchensynode ausgearbeitet hatte, und der Anna Geßner, die als Tochter des Antistes Geßner (s. A. D. B. IX, 96 u. 97) eine Enkelin Lavater’s war. F. setzte diesen Eltern 1879 in dem Büchlein „Unvergessen“ ein äußerst anmuthiges Denkmal. Nach Vollendung der theologischen Studien an der Zürcher Hochschule und empfangener Ordination begab sich F. 1842 nach Bonn. Hatte er in Zürich von seinem Großvater Geßner, an der Universität besonders von Alexander Schweizer (siehe A. D. B. XXXIV, 772–775) reiche Anregungen empfangen, so zog ihn Karl Immanuel Nitzsch an die rheinische Hochschule, und noch 1868 gab F. in der trefflichen Charakteristik, die er über Nitzsch im „Kirchenblatt für die reformirte Schweiz“ niederlegte, ein Zeugniß über die theologische Bedeutung, die der Lehrer für ihn und für Andere gehabt habe. Als Schüler von Nitzsch und als Anhänger der von diesem begründeten Vermittlungstheologie verharrte, wenn er auch sich die Selbständigkeit wahrte, F. ebenso in der Zeit seines eigenen Wirkens, und so sagte er 1896 bei seinem Jubiläum: „Nach langen innern Kämpfen fand ich Ruhe und Frieden in der Vermittlung oder Ausgleichung des historisch Gegebenen im Christenthum und der hergebrachten Kirchenlehre einerseits und den Anforderungen des denkenden Verstandes und der Wissenschaft andererseits“. In die pfarramtlichen Pflichten wurde F. von 1844 an als Vicar des Antistes Pfarrer Füßli, in der Vorstadtgemeinde von Zürich Neumünster, eingeführt, und eben der Umstand, daß der Geistliche, dessen Gehülfe er war, auch die oberste Leitung der Zürcher Kirche besorgte, war geeignet, die Blicke des jungen Geistlichen zu schärfen und seinen Gesichtskreis zu erweitern. So vermochte F. schon 1848 als Referent der Zürcher Geistlichkeit für die Versammlung der schweizerischen Predigergesellschaft die bis dahin noch wenig in das Leben eingeführte vermittelnde Richtung zum Ausdruck zu bringen. Im J. 1850 übernahm F., der jetzt auch eine Familie begründete, als Pfarrer die bei den damaligen Verkehrsverhältnissen noch recht entlegene Gemeinde Berg, im zürcherischen Bezirk Andelfingen, wo er bis 1867 blieb. Hier fand er in der Stille dieses ganz ländlichen Thätigkeitsbereiches die Muße zu größeren wissenschaftlichen Arbeiten, ganz besonders zu dem umfassenden 1854 bis 1856 erschienenen Werke: „Kirchliche Statistik der reformirten Schweiz“, das neben der statistischen Beschreibung in der Feststellung der historischen Grundlagen der kirchlichen Verfassungsseinrichtungen und Ordnungen auch als geschichtliche wissenschaftliche Leistung sich darstellt, so daß 1860 die Universität Basel bei ihrer Jubelfeier dem Verfasser den Ehrentitel des theologischen Doctors ertheilte. Das erste eigentlich historische Buch, das F. schrieb, die als „Lebensbild aus der zürcherischen Kirche“ betitelte [557] Biographie seines Großvaters Georg Geßner, vom Verfasser als „ein unscheinbares Büchlein“ bezeichnet, aber besonders auch wegen der Beziehungen Geßner’s zu Lavater sehr aufschlußreich, war 1862 die Gegengabe an die Facultät. Außerdem fiel in die Zeit der Wirksamkeit zu Berg eine gesteigerte redactionelle Thätigkeit. F. war schon seit 1845 ein fleißiger Mitarbeiter des von Hagenbach (s. A. D. B. X, 344 u. 345) begründeten „Kirchenblatts für die reformirte Schweiz“ gewesen, das als Organ der Vermittlung zwischen den schärferen Gegensätzen den kirchlichen Zusammenhang bewahren wollte; von 1860 bis 1866 war er Mitredactor neben Hagenbach, und er bekannte bei dem Rücktritte aus dieser Arbeit, sie sei ein Stück seines Lebens gewesen, und wirklich ist in diesen zahlreichen besonnenen, wohldurchdachten Beiträgen Finsler’s ganze Persönlichkeit hervorgetreten, zumal als sich der Gegensatz durch die seit 1859 von Lang (s. A. D. B. XVII, 598–600) herausgegebenen „Zeitstimmen“ verschärft hatte. Inzwischen hatte sich durch all das eine weiter reichende Aufmerksamkeit immer nachdrücklicher auf diesen Dorfpfarrer gerichtet, und schon 1856 war er als Mitglied des zürcherischen Kirchenrathes erwählt worden. In dieser Eigenschaft betheiligte er sich an wichtigen innerkantonalen Bestrebungen, über Abschluß eines Concordates für die theologischen Prüfungen; über die Erhebung des Charfreitags zum kirchlichen Feiertage, und Anderes, arbeitete an der Neugestaltung der Liturgie, und so war es 1866 nur die letzte Erfüllung einer betretenen Bahn, daß F. als Antistes der zürcherischen Kirche erwählt wurde. Das führte dazu, daß er 1867 das Pfarramt zu Wipkingen, in dem auch sein Vater gewirkt hatte, in der nächsten Umgebung von Zürich, übernahm. 1871 endlich bestieg er als Nachfolger Alexander Schweizer’s Zwingli’s Kanzel in der Großmünsterkirche zu Zürich. Von da an häufen sich für ihn die Verpflichtungen. 1872 wurde F. Präsident der 1868 geschaffenen theologischen Concordatsbehörde; ebenso leitete er die 1871 gegründete schweizerische kirchliche Gesellschaft, und an den Conferenzen der schweizerischen evangelischen Kirchenbehörden, so auch an Tagungen zur Erstellung des deutsch-schweizerischen Gesangbuches, nahm er eifrigen Antheil, als Präsident, wie auch in den Versammlungen der schweizerischen Predigergesellschaft, wann solche in Zürich stattfanden. Seit 1876 war er Vorsitzender des zürcherischen protestantisch-kirchlichen Hülfsvereins, und 1879 wurde der bald zu einer umfassenden Wohlthätigkeitseinrichtung erwachsende freiwillige Armenverein in Zürich ins Leben gerufen, dessen Präsident F. bis 1898 blieb. Außerdem war er 1872 bis 1896 Mitglied des Kantonsrathes, und seine Voten in dieser politischen Versammlung wurden wohl beachtet. Daß seit 1885 Natter’s lebenswahres Kunstwerk, das Monument Zwingli’s, Zürich schmückt, ist ganz hauptsächlich Finsler’s Initiative zu verdanken, der seit 1872 als Präsident der vorbereitenden Commission, 1873 auch in trefflich das Bild des Reformators zeichnenden Vorträgen – „Ulrich Zwingli, drei Vorträge zu Gunsten des Zwingli-Denkmals“ – hiefür seine Energie abermals dargelegt hatte. Aber ganz besonders erwies sich Finsler’s ausgezeichnete Befähigung als Führer des Kirchenregimentes, seine große parlamentarische Gewandtheit und Sicherheit in der Leitung der synodalen Versammlungen, die er schon gleich in vortrefflichen, bald mehr historisch, bald theologisch gestalteten Reden zu eröffnen verstand. Aber dabei verschloß er sich hier am wenigsten der Erwägung, daß ein weiterer gedeihlicher Ausbau der Zürcher Kirche auf neuen Wegen, in Lockerung der bisherigen Abhängigkeit derselben vom Staate, zu suchen sei. Schon seit 1861 bestand seine Motion betreffend Einführung einer gemischten Synode, die sich dem kirchlichen Gemeindeverbande anschlösse und die Geistlichkeit als Körperschaft in sich aufzunehmen hätte, und Jahrzehnte hindurch [558] bemühte sich F. für eine neue Kirchenverfassung, die endlich, freilich nicht völlig in der seinen Wünschen entsprechenden Form, 1895 zu Stande kam. Mit der Aufhebung der Geistlichkeitssynode, an deren Stelle jetzt die aus Volkswahlen hervorgehende gemischte Synode aus Geistlichen und Laien trat, hörte das Amt eines Antistes auf. Aber als Präsident des Kirchenrathes widmete jetzt F. bis an sein Lebensende der Ausarbeitung des neuen Kirchengesetzes, das die neue Synode unter Vorbehalt der staatlichen Genehmigung selbst aufzustellen hatte, seine hingebende Thätigkeit. Das Jahr 1896 brachte für ihn, neben der Eröffnung dieser neuen Synode, die beiden unter allgemeiner Theilnahme gefeierten Jubiläen des fünfzigjährigen Kirchendienstes und des fünfundzwanzigjährigen städtischen Pfarramtes. Neben allen diesen vielfachen Bereichen des Wirkens, denen er die größte selbstthätige Gewissenhaftigkeit widmete, stand auch eine fruchtbare litterarische Wirksamkeit. Am „Volksblatt für die reformirte Schweiz“, dem Organ der schweizerisch-kirchlichen Gesellschaft, das seit 1886 wieder den Titel „Kirchenblatt“ führt, betheiligte er sich fortwährend, und seine Beiträge, wie 1882 der „Blick auf die neuere Theologie“, beweisen, mit welchem Interesse und Verständniß er auch der neueren Entwicklung der Theologie und Philosophie folgte. Ganz besonders fand auch seine 1881 veröffentlichte „Geschichte der theologisch-kirchlichen Entwicklung in der deutsch-reformirten Schweiz seit den dreißiger Jahren“ die freudigste Aufnahme, und ein so berufener Beurtheiler, wie Biedermann (s. A. D. B. XLVI, 540–543), rühmte an ihr die völlig objective Treue, das unparteiische Urtheil, die ruhige Unbefangenheit, bei Gelegenheit auch den feinen Humor. Capitel der neueren schweizerischen Kirchengeschichte, „Die zürcherische Kirche zur Zeit der helvetischen Republik“ und „Die religiöse Erweckung der Zehner- und Zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts in der deutschen Schweiz“, behandelte er in den Zürcher Taschenbüchern von 1859 und 1890. Neben jenen Vorträgen über Zwingli ließ er auch zu dem Erinnerungstage von 1884 und zur Festfeier von 1885 Veröffentlichungen für weitere Kreise erscheinen. Für die „Allgemeine Beschreibung und Statistik der Schweiz“, 1873, und für die Bibliographie der schweizerischen Landeskunde, 1896, bearbeitete er die einschlägigen Abschnitte über die reformirte Kirche, im zweiten Falle wenigstens der deutschen Schweiz. Eine auf den eindringlichsten Studien beruhende dreitheilige Abhandlung – Staat, Kirche, häusliches und sociales Leben – stellte F. ferner 1878 bis 1880 in die zum Besten des Waisenhauses von einer Gesellschaft, deren Präsident er 1894 wurde, herausgegebene Serie zürcherischer Neujahrsblätter: „Zürich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts“; nachher erschien das Ganze 1884 noch als besondere Schrift. Als Besitzer und geistiger Verwalter des von ihm als Erbe angetretenen Lavater-Archivs, der umfangreichen Sammlung besonders von Correspondenzen, die bald nach seinem Tode durch die Hinterlassenen der Stadtbibliothek Zürich übergeben wurden, förderte F. mit großem Verständniß und steter Bereitwilligkeit zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. So blieb F. bis in sein hohes Alter – 1894 war ihm in seiner Gattin die hingebende vertraute Gehülfin seines Thuns entrissen worden – geistig vollkommen unvermindert an Kraft, wenn auch seine körperliche Angegriffenheit ihm seit dem Frühjahr 1898 die Betretung der Kanzel verbot. Noch konnte er auf 1899 in dem Neujahrsblatte der Zürcher Hülfsgesellschaft die vielseitige Thätigkeit dieser wohlthätigen Vereinigung durch die hundert Jahre ihres Bestandes seit den Kriegsstürmen von 1799 schildern; aber auf Mai 1899 hatte er von seiner pfarramtlichen Thätigkeit – in derselben folgte ihm sein Sohn nach – die [559] Entlassung genommen. Doch schon vorher trat, am Tage vor dem Osterfeste, sein Tod ein.
Finsler: Georg Diethelm F., schweizerischer Theologe, Antistes der zürcherischen Kirche, geboren zu Zürich am 24. December 1819, † ebendaselbst am 1. April 1899. Der letzte, zweiundzwanzigste, in der Reihe der mitF. war eine würdevolle, auch in seinem Aeußeren Eindruck erweckende, wenn er es für nöthig hielt, imponirende Persönlichkeit. Von sich selbst sagte er: „Stets habe ich gerne gepredigt. Ein hervorragender Kanzelredner, der, abgesehen von den Festtagen, stets eine große Menge von Zuhörern um sich versammelt hätte, bin ich nie gewesen; dagegen hat meine mehr darlegende Weise, die doch auch der Wärme nicht entbehrte, bei manchen freundlichen Anklang gefunden“. Bei festlichen Gelegenheiten wußte er seine Zuhörer mächtig zu fesseln, und die schon berührte Meisterschaft in der Führung des Vorsitzes in Berathungen war unbestritten. Klar und ebenmäßig war sein ganzes Handeln und Schreiben. Bei einer scheinbaren gewissen kühlen Bedächtigkeit war die innere helle Gemüthlichkeit doch stets leicht zu erkennen, und sein feiner Humor, wie ihn Biedermann in den schon berührten „Erinnerungen“ rühmte, trat auch im gesellschaftlichen Umgange hervor.
- Vgl. Meyer’s Artikel im Taschenbuch für die schweizerischen reformirten Geistlichen auf das Jahr 1900, die dort S. 229 citirten biographischen Mittheilungen über F., besonders im Kirchenblatt für die reformirte Schweiz, 1899, Nr. 17 u. 18, Stähelin’s Artikel, Nr. 26 u. 27 vom Verf. d. Art.: Dr. Georg Finsler’s historische Arbeiten, dazu eigene Erinnerung.