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ADB:Natter, Heinrich

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Artikel „Natter, Heinrich“ von Hyacinth Holland in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 52 (1906), S. 588–591, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Natter,_Heinrich&oldid=- (Version vom 25. November 2024, 04:18 Uhr UTC)
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Natter: Heinrich N., Bildhauer, geboren am 16. März 1844 zu Graun (Tirol), † am 13. April 1892 in Wien, der Sohn eines Schulmeisters, der später umsattelte und Wundarzt geworden war. – Guten Vorunterricht genoß N. fünf Jahre lang zu Meran bei dem Bildhauer Pendl, besonders in der Technik der Holzskulptur. Der Zufall brachte ihn nach Augsburg; eine für den Bischof geschnitzte Christus-Statue fand Beifall. Weitere Schulung suchte [589] er an der Münchener Akademie bei Max Widnmann. Auf dringenden Rath der Aerzte ging N. nach dem Süden, „conditionirte“ in Bozen, Verona und Venedig, wo er sich als Holzbildhauer durchbrachte. Im Kriege des Jahres 1866 diente er seine Militärzeit ab. Mit Hülfe eines reichen Engländers erweiterte N. sein Wissen an den italienischen Plastikern und Malern. Von Giotto und den folgenden Cinquecentisten, insbesondere dem Bildhauer Mino da Fiesole in Florenz, vermochte er sich kaum zu trennen. In Rom erweckte der „Moses“ des Michelangelo einen überwältigenden Sturm; lange stand N. lautlos vor dem Julius-Denkmal und verschwand dann plötzlich; sein Freund entdeckte ihn endlich hinter einem Pfeiler mit thränenüberströmtem Antlitz. – In München verarbeitete er die gewonnenen Eindrücke mit einigen Maskarons und Brunnen-Faunköpfen als Terracotten im Sinne der della Robbia’s; sein titanischer Zug drängte aber nach dem Colossalen. So machte er sich an eine Wuotan’s-Statue. Das weit überlebensgroße Modell erregte Anerkennung, aber keine Bestellung, auch nicht in Wien. Dessen ungeachtet wagte er die Ausführung in Stein, mit Aufwand der letzten, schwer verdienten Mittel. Aber Zeit und Arbeit schien verloren. Da fand sich ein Mäcen in dem Architekten und Maler Anton Höchl (s. A. D. B. L, 377), der nicht allein das Geld, sondern auch in seinem Tusculum am Priel bei Bogenhausen einen Platz besaß in den letzten Beständen eines vielhundertjährigen Eichenwaldes, dem huldreichen Vater der Götter und der Menschen ein passendes Asyl zu gewähren. Der Bann war für den Künstler gebrochen; Aufträge zu Büsten kamen, der schönen, gefeierten Hofopernsängerin Sophie Stehle, die sich als Baronin v. Krüdener ins Privatleben zurückzog; des Augsburger Bürgermeisters Forndran; auch ein „Shakespeare“ wurde verlangt. Der flügge gewordene Künstler begab sich nun nach Wien, wo man auf seine Ankunft wartete. N. fand nicht nur Bestellungen, sondern auch eine mit Glücksgütern gesegnete Frau, die ihm gern die Hand reichte. Ehre, Ruhm und klingender Lohn folgten. Bei vielen Concurrenzen wurde ihm nicht nur der erste Preis, sondern auch die Ausführung zugetheilt. N. vollendete den schon in München entworfenen „Siegfriedbrunnen“ für die Gartenanlagen eines kunstsinnigen, österreichischen Grundbesitzers und das „Schumann-Monument“ für Leipzig. Mit seinem „Zwingli“ (Abbildung und Text in Nr. 2114 der „Illustr. Ztg.“ Bd. 50, S. 3, 5. Januar 1884) für Zürich siegte er über 42 Concurrenten und gewann, als er das Riesenwerk des mit Wort und Schwert so streitbaren Reformators überbrachte, die auch mit dem Ehrenbürgerrecht lohnende Stadt so lieb, daß er daselbst leben und bleiben wollte. Doch riefen ihn neue Arbeiten nach Wien. Zuerst das in Carraramarmor ausgeführte, am 31. Mai 1887 im Esterhazy-Park zu Mariahilf feierlichst enthüllte Denkmal für Josef Haydn, den Vater der Instrumentalmusik und Meister der unsterblichen „Schöpfung“ (vergl. Nr. 2233 „Illustr. Ztg.“, Leipzig, 17. April 1886, mit dem begeistert aufblickenden Haupt des Tondichters). Dann das „Schleining-Denkmal“ für Darmstadt; abermals viele Büsten, darunter Bismarck’s für Frankfurt, wozu ihm der eiserne Kanzler eine eigene Sitzung in Berlin gewährte, den bärbeißigen Laube und den vornehmen Baron v. Dingelstedt im Foyer-Vestibule des neuen Burgtheaters, dazu die Schauspieler Laroche und Meixner, des Bürgermeisters Uhl, das Grabmal der leichtbeschwingten Fanny Elßler, das Standbild des Erzherzogs Franz Karl und des Kaisers Franz Josef, welches mit dem Ritterkreuz des Franz Josef-Ordens belohnt wurde. Ferner der Brunnen mit dem Standbild Walther’s von der Vogelweide für Bozen (vergl. Nr. 2393 „Illustr. Ztg.“, Leipzig, vom 11. Mai 1889, und der Festbericht in Lützow’s „Zeitschrift“ 1890, N. F. I, 53), die [590] „Nornengruppe“ (gehoben durch die altnordisch stilisirte Architektur von Hieser) im unheimlich feierlich wirkenden Flesch’schen Grabgewölbe zu St. Veit. Zuletzt das colossale Erzbild des Andreas Hofer, dessen Aufstellung und Enthüllung der Künstler nicht mehr erlebte (vergl. Nr. 2566 „Illustr. Ztg.“. Leipzig, 3. September 1892, und „Kunst für Alle“ 1893, S. 61). Leider blieb sein Werk anfänglich nicht ohne Einspruch. Es hatte sich im Laufe der Zeit ein aprokrypher Typus dieses kaisertreuen Landvertheidigers herausgebildet und festgesetzt. Das mußte auch Defregger bei seinen Bildern erfahren, der gleichfalls auf die ältesten authentischen Hofer-Porträts zurückgriff. N. hielt sich an das von Franz Altmutter (geboren 1746 in Wien, † 1817 zu Innsbruck), der ja den „Sandwirth“ unzählige Male gesehen hatte; der Bildner durchwanderte dann wiederholt das Passeierthal, um in Hofer’s Heimath an den markigen Volksgestalten seine Studien zu machen und aus heute noch gangbaren Ueberlieferungen brauchbare Züge zu sammeln. Möglich, daß N., wie überhaupt jeder Künstler unbewußt thut und selbst Hevesi zugibt, eine Spiegelung seines eigenen titanischen Wollens und Strebens, ein sozusagen autochthon-biographisches Selbstgefühl mit hineinbrachte. Das Standbild wurde ebenso enthusiastisch belobt wie maulend benörgelt. Unerschütterlich fest steht die kraftstrotzende Gestalt des Sandwirth, in seine echte Landestracht gekleidet: schwere, gestulpte Lederstiefel reichen bis zu den muskulösen Waden, dicke Wollenstrümpfe kommen darüber zum Vorschein; Knie und Leib stecken in engen Lederhosen, über der Brust liegt das grobgesponnene Hemd; die Hüfte umschließt der breite, gestickte Ledergurt und der kurze Passeier Lodenrock. Sein bekannter, bis zur Brust reichender Bart umrahmt das zornig über den Feind blickende, vom breitkrämpigen Filzhut überschattete Antlitz, den ausdrucksvollen Kopf etwas vorgebeugt, zeigt Hofer mit der ausgestreckten Rechten wie zum Kampfe gebietend, nach Innsbruck hinunter; die markige Linke drückt die hoch über ihn breit und ruhig niederwallende Fahne an die Brust. So steht er da, jeder Zoll ein ganzer Mann im lebenathmenden Linienzug, ein bäuerlicher Leonidas. Der Künstler hätte ein wohlberechtigtes „Mach’s nach!“ für Jeden darunter setzen können.

N. besaß unbewußt eine hinreißende Erzählergabe. Eines Tages berichtete er dem so stilgewandten Ludwig Speidel (geboren am 11. April 1830 in Wien. † am 3. Februar 1906 zu Wien) von seinem Besuche beim Steiner Josele in Passeier, jenem uralten Männchen, das in seiner Jugend dem Sandwirth Hofer während des Tiroler Aufstandes Botendienste geleistet hatte. Alles lebte zu Speidel’s Staunen in dieser Erzählung, Menschen, Thiere und Felder. Speidel bat, die Erzählung aufzuschreiben. Als dann der Bericht, frisch von der Pfanne, in der „Neuen Freien Presse“ erschien und alle Leser packte, wollte niemand, selbst N. nicht, glauben, daß er das Ding geschrieben; selbst in dessen Familie mußte Speidel, der nichts an Natter’s Niederschrift verändert, weder ein Wort hinzugethan, noch eines hinweggenommen, nur hin und wieder dem leichteren Satzbau zuliebe ein Wort verschoben hatte – ebenso wie der Berichterstatter es seiner Zeit bei der Herausgabe der Memoiren des Schlachtenmalers Albrecht Adam (Stuttgart 1886) machte – hören, wie er den Ton Natter’s vorzüglich getroffen hätte. Daß N. selbst an seine Autorschaft nicht glauben wollte, ist nur aus dem magischen Eindruck erklärbar, den es auf den Menschen macht, sich zum ersten Male gedruckt zu sehen. Auch Goethe hatte dasselbe bei seinem „Götz“ erfahren! Auf Speidel’s dringendes Bitten brachte N. noch etliches in Schrift: die Schilderung eines „Widderkampfes“, die Memoiren eines „Murmelthieres“ und etliche „Träume“: Wie N. von einer Gesellschaft einem verstorbenen Freunde (Ludwig Porges) ins Jenseits nachgesendet [591] wird, um zu sehen, wie er sich dort befinde. Dieser Bericht ist in den echten deutschen Kindermärchenton gekleidet mit specifisch Tirolerfärbung. An der Himmelsthür steht die Aufforderung: „Stark klopfen!“ Die Behausung des hl. Petrus sieht aus wie eine Tiroler Bauernstube – ganz im Stile, wie Vogel von Plauen seine Einsiedlerklausen zeichnet: ein großer, grüner Kachelofen mit einer ringsumlaufenden Lotterbank, in der Mitte ein schwerer Eßtisch aus Eichenholz, von lehnenlosen Stühlen umstellt. An der glatten bis zum schmucklosen Plafond reichenden Holzvertäfelung hängen Bilder: Porträts von Gott Vater und Sohn, der hl. Jungfrau und der Apostel. In einer Hecke von frischen Fichtenzweigen flattern zwei Kreuzschnäbel. St. Peter ist der leutseligste Wirth; als er darangeht, seinen Gast tiefer in den Himmel hineinzuführen, sagt er: „Bevor wir gehen, laßt uns die Krügel leeren und trinken auf das ewige Wohl unsers erhabenen Schöpfers.“ Das ist alles so treuherzig gedacht und gesagt, wie es nur ein ehemaliger „Herrgottschnitzer“ thun konnte. Mit der Natur stand N. auf vertrautem Fuße, kannte alle ihre Reize und Launen. Dem Sohne des Hochgebirges war die Besteigung der höchsten Berge nur ein Spaziergang. Sämmtliche Singvögel waren seine guten Kameraden; er pfiff lockend ihre Stimmen nach und verstand „ihr Latein“ (ihre Sprache). Einmal habe er den Gesang eines großen, buntgefiederten Vogels gehört, welchen er nachmals vergeblich in der „Naturgeschichte“ suchte; er habe ihn immer tiefer in den Wald hineingelockt und sei endlich auf einer Buche sitzen geblieben. „Merk’ auf, Heini“ (die volksthümliche Abkürzung seines Vornamens Heinrich), habe er ihm vorgesungen, „was ich dir sage: In zehn Jahren werde ich silberne Eier legen, und wieder in zehn Jahren goldene. Wenn du nicht dumm bist, so wirst du sie finden.“ Damit war der Vogel verschwunden. Aufgeregt sei er nach Hause gegangen und noch oft habe er von dem seltsamen Vogel geträumt. Der Vogel habe nicht gelogen. Seine Vorhersagung traf ein. Nach zehn Jahren verweilte N. als armer Bursche in Venedig, und ein fremder Mann, ein Engländer, habe sich wohlwollend und hülfreich seiner angenommen; nach zehn Jahren habe er mit Wuotan-Höchl’s Hülfe seine Existenz als Mann und Künstler begründet. In Wien fand er dann die goldenen Eier: Ehre, Ruhm und Glück. – Der Traum seiner schwergeprüften Jugend hatte sich glänzend erfüllt. – Mit dankbarer Begeisterung sprach er immer von Zürich und dessen großherzigen Bürgern. Sein letzter Gedanke galt dieser Stadt; hier sollte seine Asche ruhen. Den Wunsch besorgte das Crematorium.

Vgl. v. Vincenti in Nr. 5 der Allg. Ztg. vom 14. April 1892. – Nr. 5 Ueber Land und Meer, Stuttgart 1893, 71. Bd., S. 107. – J. C. Platter in Nr. 36 d. Gartenlaube 1893. – Ludwig Hevesi’s Nachruf in seinen „Wiener Todtenkranz“ betitelten Nekrologen. Stuttgart 1899, S. 257–71 und in dessen „Oesterreichische Kunst 1848–1900“. Leipzig 1903, S. 182. – Natter’s Kleine Schriften hat Ludwig Speidel mit einer einleitenden Biographie und dem Bildniß des Künstlers Innsbruck 1894 bei Edlinger in einem kleinen Bändchen herausgegeben. – Vergl. auch Nr. 361 d. Neuen Züricher Zeitung vom 27. December 1863.