ADB:Gabillon, Ludwig

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Artikel „Gabillon, Ludwig“ von Alexander von Weilen in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 477–479, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gabillon,_Ludwig&oldid=- (Version vom 25. April 2024, 07:29 Uhr UTC)
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Gabillon *): Ludwig G., Schauspieler, geboren am 16. Juli 1825 bei Güstrow, † am 13. Februar 1896 in Wien. Die Familie stammte aus der Gascogne, der Großvater war als französischer Emigrant nach Schwerin gekommen, der Vater war bei der Steuerbehörde in Güstrow, später in Schwerin. Das disharmonische Verhältniß der Eltern machte ihn bald selbständig, ein Gastspiel der Bethmann’schen Truppe in Güstrow und das Hoftheater in Schwerin reizten seine Lust zur Bühne, die er 1844 in Rostock betrat, 1846 war er in Oldenburg unter Leitung Mosen’s, 1847 in Schwerin, 1849 in Kassel, 1851 in Hannover, inzwischen hatte ihn Emil Devrient für sein Gastspiel nach London mitgenommen. Am 13. März 1853 schrieb die Bayer-Bürck an Laube aus Hannover: „Suchen Sie nicht einen jugendlichen Liebhaber? Hier ist ein Herr Gabillon, der mir nicht übel scheint“. Laube sieht ihn an und ruft ihn nach Wien, wo er 1853 am 17. August als Don Cesar in „Donna Diana“, am 20. im „Don Carlos, am 22. als Schiller in den „Karlsschülern“ debutirt. Vom October ab gehört er dem Burgtheater durch zweiundvierzig Jahre an, 1856 hat er sich mit seiner Collegin Zerline Würzburg (s. A. D. B. XLIV, 363) vermählt, nur selten zog er auf Gastspiele, z. B. 1868 mit einigen Burgtheater-Mitgliedern nach Berlin. 1876 wurde er Regisseur. Am 5. September 1895 betrat er zum letzten Male die Bühne als Erdgeist im „Faust“.

Gabillon’s ganze künstlerische Entwicklung liegt im Burgtheater. Die Debuts wurden von der Kritik nicht unfreundlich begrüßt, jedenfalls gestand man ihm Talent zu, das aber noch sich selbst zu suchen habe. Es war Laube sofort klar, daß er der gewünschte Liebhaber gewiß nicht war, wo er mit dem Ferdinand in „Kabale und Liebe“ beinahe durchfiel. „Ich weiß, daß Sie etwas können, ich weiß nur noch nicht was, sagte er zu ihm, und der junge Künstler wußte es selbst nicht. Daß Dawison das Burgtheater verließ, brachte ihm eine Reihe von Charakterrollen, in denen es schon besser ging, sodaß es nach dem Carlos im „Clavigo“ in einer Besprechung hieß: „Herr Gabillon muß es dem Herrn Laube für sein ganzes Leben Dank wissen, daß er ihn von den steifen Liebhaberrollen erlöste und ihn zu dem eigentlichen künstlerischen Fach führte, für das er geboren ist“. Aber bald darauf fällt der Mephisto nicht sehr glücklich aus, und 1856 bringt ihm Laube mit dem „Macbeth“ eine schwere Niederlage. Dazwischen aber steht 1854 im „Fechter von Ravenna“ der Caligula, den Halm zu seinem größten Entsetzen ihm zugetheilt sieht, aber der ihn schon auf den Proben aufs angenehmste überrascht. Auch die prononcirten Intriguanten gelingen ihm nicht, dagegen liefert ihm bald das französische Lustspiel, in das ihn Laube nur langsam einrücken läßt, eine Reihe von Chargen, und so erobert er sich ein weites Reich, daß[1] von den Officieren und Diplomaten der Conversationsstücke zu den Shakespeare’schen Cardinälen, von wüsten Trunkenbolden bis zu den graziösesten Salonplauderern, von gröhlenden Schreiern bis zu mächtigen Rhetorikern hinaufsteigt; es bildet sich ein „Gabillon“-Fach, so eigenartig, so individuell, daß es nur mit seinem Namen bezeichnet [478] werden kann und nie wieder in seinem Umfange und seiner Besonderheit in einer Persönlichkeit sich vereinigt zeigen wird.

Mecklenburgisches und französisches Blut scheint bei ihm in einander zu verfließen: wirkliche Kraft, aus unmittelbarer Berührung der Natur geschöpft, und liebenswürdige, parodistische Kraftmeierei. Jeder Zug an ihm ist echt, und das Echteste ist sein humorvolles Flunkern, das durchaus nicht den Lügner, sondern den Poeten in ihm verräth. Die ganze Erscheinung athmet Kraft: das scharf markirte, aber so heitere Antlitz, die lange, sehnige, niemals verfettete Gestalt mit ihrer ganz wunderbaren Vereinigung von Wucht und Grazie, auch in Gang und Bewegung, die sonore, dröhnende, beim r sogar schnarrende Stimme, der es freilich an weicheren Mitteltönen etwas fehlte, die sowohl bis in die rauhen, trunkseligen Töne eines Tobias, eines Mattern hinab, als in die Fistellaute eines Lindenschmied im „Erbförster“ hinauf stieg, aber ihre schönsten Wirkungen frei und breit ausströmend erzielte. Seine ganze Natur strebt nach einfachen, sofort zu erfassenden und unmittelbar wiederzugebenden Aufgaben: das können ja oft recht geistvolle Individualitäten sein, wie er ja, wohl nicht ohne Einfluß seiner ihm an Esprit überlegenen Gattin, bis zu einer Kunst der Dialektik emporstieg, die das Zankduett von Shakespeare’s Benedict und Beatrice so unvergeßlich macht. So kann er emporwachsen bis zu einem Hagen, der für die Bühne wieder mit seinem Namen fast untrennbar verbunden ist, den der Dichter selbst mit dem Schlagworte „wie ein Gewitter“ kennzeichnet. Hier war die volle Bethätigung seiner körperlichen Kräfte, deren er sich in Kunst und Leben freute, vereint mit Größe der Gesinnung, unheimliche Wildheit, die vor seinem Griffe nach Etzel’s Kinde erzittern ließ, und männliches tiefes Fühlen. Es ist der Gipfelpunkt von Gabillon’s tragischer Kunst. Und dagegen: jener tapfere Haudegen Don Lope im „Richter von Zalamea“, der nach Speidel’s Worte so deutlich zeigt, wie der Mensch auch der Künstler ist, der brüllende zuschlagende Kattwald in „Weh dem der lügt“, der verrissene „Hans mit einem Bein“, der tapfere Selbitz des „Götz“, oder der ihm wie auf den Leib geschriebene Spiegelberg, dessen gewaltiger Sprung viel mehr als eines seiner geliebten, turnerischen Kunststücke war, wer nennt sie alle die köstlichen Gestalten urwüchsigsten, menschlichsten Humors! Wo er über die Lebensgröße im Ernst wie im Scherz emporwachsen darf, ist es seiner freien Seele am wohlsten – und da soll es ihm nicht gegeben sein, auch Gestalten, die ein Drama völlig beherrschen, die sogenannten ersten Rollen zu schaffen, wo er, ohne jede Vordringlichkeit, meist, wenn er auftrat, schon im Mittelpunkt des Interesses stand? Nicht nur in seiner Jugend hat man naheliegende Versuche gemacht und ihn auch als Wallenstein, nicht ohne Erfolg, herausgestellt. Aber die volle Wirkung, die sich sonst so sicher einstellte, versagte. Und es liegt gerade in seiner Individualität, daß er so tragenden Rollen nicht gewachsen war. Diese sind immer mehr oder weniger Probleme, die langsam entwickelt werden müssen. Ein derartiges Aufbauen ist Gabillon’s Sache nie gewesen; wie er als Natur ganz fertig war, bedurfte er auch auf der Scene der fertigen Gestalten. Diese fertigen Gestalten sind das, was man Episode nennt. Episoden, im weitesten Umfange, sind alle Schöpfungen Gabillon’s.

Aber, wer vermöchte es, auch nur andeutend den ganzen Umfang der vierthalbhundert Rollen zu erschöpfen, die G. auf dem Burgtheater vorführte? „Alles, was körperlich und geistig über die durchschnittliche Menschengröße hinausstrebte, gewann ihm ein erhöhtes Interesse ab: ein warmes, gemüthliches, wenn es echt, und ein humoristisch ironisches, wenn es entweder bewußte oder unbewußte Renommisterei war“ (Minor). Er gab immer seine Persönlichkeit, [479] bald von der einen, bald von der andern Seite. Hier sei nur noch des unheimlichen „Mannes vom Felsen“, des urweltlichen Polyphem in Euripides’ „Cyklop“, des wilden Schlemmers Boffesen in Bauernfeld’s „Landfrieden“ und des Shakespear’schen Tobias, der vielen soldatischen Gestalten schwereren und leichteren Schlages, einer Salonfigur wie des Marquis in der „Partie Piquet“ gedacht, einer seiner glänzendsten Rollen, des Delobelle in „Fromont jr. und Risler sen.“, ja nicht zu vergessen. Selbst sein Gebrechen, ein schlechtes Gedächtniß, das sich sehr früh bemerkbar machte, gab ihm oft einen Zug des unmittelbaren, naiven Schaffens. Und eine wahrhaft naive Natur ist G. als Künstler wie als Mensch gewesen. So war es nicht nur die vollendete Beherrschung des Dialektes, es war auch die Uebereinstimmung im Wesen, die ihn zu einem so vollendeten Vorleser Fritz Reuter’s machte. Das Echte, im Leben wie in der Kunst, findet in ihm seinen Anwalt, und es ist sein ehrliches Empfinden, wenn er der modernen Dichtung nicht mehr willig Gefolgschaft leistet. Auch der Regisseur hat sich, an Seite Dingelstedt’s, so manches Verdienst um die Shakespeare-Dramen erworben; daß er es war, der die Wiederaufnahme von: „Weh dem der lügt“ ins Werk setzte, ist sein bleibender Ruhm. „Möge mein Genius mich vor hohem Alter bewahren“, hat er, stets in Sorge, eine Abnahme seiner Körperkräfte zu fühlen, ausgerufen. Auch diesen Wunsch hat ihm ein gütiges Geschick gewährt.

Helene Bettelheim-Gabillon, Ludwig Gabillon, Tagebuchblätter, Briefe, Erinnerungen. Wien 1900. – L. Hevesi, Zerline Gabillon. Stuttgart 1897. – J. Minor in: Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog, I, 432–440. – A. Bettelheim, Verzeichniß der Rollen, die Ludwig Gabillon als Mitglied des Hofburgtheaters 1853 bis 1893 gespielt hat (Privatdruck). Wien 1893. – L. Hevesi, Wiener Todtentanz, S. 18 ff. – A. v. Weilen, Geschichte des Burgtheaters.

[477] *) Zu Bd. XLIX, S. 236.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 477, Z. 5 v. u. lies: das (statt daß). [Bd. 55, S. 904]