ADB:Gossen, Hermann Heinrich
*): Hermann Heinrich G., Nationalökonom, wurde geboren in Düren (Reg.-Bez. Aachen) am 7. September 1810 als Sohn des Steuereinnehmers Josef Gossen und dessen Gattin Mechthildis geb. Scholl. Josef G. stand vor dem Sturze des Kaiserreichs in französischen, nachher in preußischen Diensten; 1824 gab er seine Stellung auf, um sich der Bewirthschaftung des seiner Frau gehörigen Gutes Muffendorf bei Godesberg zu widmen. Schon [484] in diesen Jahren soll der junge Hermann (Armand) Begabung für Mathematik gezeigt haben. In Köln, Bonn und Düren lag er den Gymnasialstudien ob. Im Herbste 1829 bezog er die Universität Bonn, um Rechts- und Cameralwissenschaften zu studiren. Sein Abgangszeugniß vom 28. Februar 1831 bekundet, daß er außer juristischen Vorlesungen (u. a. bei Walter) auch philosophische, nationalökonomische, technologische, naturwissenschaftliche und litterarische hörte. Im nächsten Sommersemester ging er nach Berlin, wo er u. a. Savigny’s und Hoffmann’s Collegien besuchte. Hierauf finden wir ihn wieder in Bonn. Im Februar 1834 bestand er das Referendarexamen und trat im October 1834 bei der Regierung in Köln als Referendar in den Staatsdienst ein. Im J. 1844 legte er die große Staatsprüfung ab, wurde am 6. Juli zum Regierungsassessor ernannt und der Regierung in Magdeburg überwiesen. Im Juli 1845 erfolgte seine Versetzung nach Erfurt. Nach dem Tode seines Vaters, auf dessen Wunsch allein er sich dem Staatsdienste gewidmet hatte, nahm er am 23. November 1847 seinen Abschied. Seine Neigung für die Geschäfte der Staatsverwaltung war so gering gewesen, daß es zu Conflicten mit seinen Vorgesetzten gekommen war. Sein tiefstes Interesse hatte er seit seiner Berliner Studienzeit den volkswirthschaftlichen Problemen zugewendet; schon in der Prüfungsarbeit seines Referendarexamens machte sich, nach dem Berichte von Walras, jene wissenschaftliche Methode bemerkbar, die sein Lebenswerk, „das Resultat 20jährigen Nachdenkens“, auszeichnet, nämlich die mathematische. Seine Ueberzeugung von der Wichtigkeit der Anwendung mathematischen Calculs auf sociale Probleme mag es auch gewesen sein, die ihn dazu bewog, sich 1849 zu Köln an einem Versicherungsunternehmen gegen Hagelschlag und Viehsterben an leitender Stelle zu betheiligen. Doch der Erfolg blieb aus, und zu der Verwirklichung seines mit großer Sorgfalt ausgearbeiteten Planes einer „allgemeinen deutschen Sparcasse“, welche sich mit Lebensversicherungen befassen sollte, kam es nicht. Mit dem Reste seines Vermögens zog er sich zurück und vollendete seine „Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln“; so lautete der Titel des Buches, das er im Januar 1853 abschloß.
GossenNoch im selben Jahre erkrankte G. an einem typhösen Fieber, das seine bis dahin kräftige Gesundheit untergrub; er betrieb daher die Drucklegung seines Werkes mit nervöser Hast: am 15. April 1854 wurde der Vertrag mit Fr. Vieweg Sohn von ihm unterzeichnet, und binnen dreier Monate mußte das Buch (277 Seiten) fertiggestellt sein. Für die Druckkosten hatte sich der Advocat Meyer in Köln verbürgt. Schon am 1. Januar 1858 zog G. das Werk aus dem Verkehre: den Ruhm eines Copernicus hatte er davon erwartet und völlig unbeachtet war es geblieben. Er starb im selben Jahre an Lungenschwindsucht. Die Kränkung über den Mißerfolg soll sein Ende beschleunigt und seine letzten Lebenstage verbittert haben. Noch im Todesjahre erschien die Nationalökonomik von Kautz, die seiner in ehrenvoller Weise gedachte. Allein zu einer gerechten Würdigung des schwer lesbaren Buches kam es, trotzdem F. A. Lange 1870 auf G. verwiesen hatte, erst durch Jevons und Walras. Heute ist G. als einer der hervorragendsten Wirthschaftsphilosophen anerkannt. Die Buchhandlung Prager erwarb 1888 die restlichen Exemplare des Gossen’schen Werkes von Dr. Hermann Kortum, Professor der Mathematik in Bonn, einem Neffen des Denkers, und veranstaltete eine neue Ausgabe.
Von Gossen’s Persönlichkeit wissen wir wenig: der Erforscher der „Gesetze des Genießens“ war selbst dem Lebensgenusse nicht abhold gewesen; auch liebte [485] er die Kunst. Ein Gemälde von seiner Hand ist im Besitze seines Neffen Regierungsrath Féaux de Lacroix in Halle: es stellt den mütterlichen Gutshof dar. Die Musik – er spielte die Geige – war seine Trösterin in trüben Stunden. Er wird geschildert als Mann von Offenheit und Gutherzigkeit, als liebenswürdiger Idealist. Aus seinem Buche selbst spricht die höchste Begeisterung für das Wohl der Menschheit und unbegrenzte Bewunderung der göttlichen Weisheit und Güte, deren Offenbarung er, wie in der ganzen Natur, so auch im socialen Geschehen erblickte. Hierin, wie in anderem, erinnert er an Süßmilch und die bahnbrechenden Naturforscher und Mathematiker. Eine Skizze seines Lebenswerkes möge sein Bild vervollständigen.
Jedem Menschen, lehrt G., ist vom Schöpfer der unvertilgbare Wunsch eingepflanzt, sich selbst ein Maximum an Lebensgenuß zu verschaffen; aus diesem seinem Lebenszweck fließt die durchaus egoistische Hauptregel: „der Mensch hat seine Handlungen so einzurichten, daß die Summe seines Lebensgenusses ein Größtes werde“. Das fundamentalste Gesetz ist das Abnahmegesetz des Genießens: die Größe eines und desselben Genusses nimmt, wenn mit der Bereitung des Genusses ununterbrochen fortgefahren wird, fortwährend ab, bis zuletzt Sättigung eintritt; ähnlich wie die Fortsetzung wirkt die Wiederholung.
Das Abnahmegesetz läßt sich graphisch veranschaulichen. Es seien die Endpunkte einer geraden Strecke, welche die Zeitstrecke bedeutet, die zur vollständigen Bereitung eines Genusses nöthig ist; eine im Anfangspunkte errichtete Senkrechte von der Länge stelle die Anfangsgröße des Genusses dar; dann gibt die Fläche des die Gesammtgröße des vollständig bereiteten Genusses an und die Hypotenuse – die man sich auch durch eine beständig abfallende Curve ersetzt denken könnte – zeigt, daß und wie der Genuß mit der Zeit abfällt.
G. betont nun, daß man einen zur Verfügung stehenden Zeitraum zunächst mit einem Theile jenes Genusses ausfüllen soll, der die größte Anfangsintensität hat, und stellt sich folgendes Problem: wenn der Zeitraum, er nennt ihn , nicht ausreicht, um zwei oder mehrere Genüsse vollständig, wohl aber, um jeden von ihnen theilweise zu bereiten, in welchem Verhältniß ist dieser Zeitraum mit Fragmenten jener zwei oder mehreren Genüsse auszufüllen, damit ein Maximum an Genuß entsteht? Antwort: Die Zeitstrecke ist zur Herstellung jener zwei oder mehreren Genußtheile derart zu verwenden, daß die Intensität der Genüsse im Momente ihres Abbrechens bei allen zur theilweisen Bereitung gelangenden Genüssen die gleiche ist. Beweis: Während der Zeit, in der ich einen der Genüsse um ein noch so kleines Stück tiefer sinken lasse, als bis zu einem Intensitätsniveau, zu dem ich auch bei jedem der anderen herabzugelangen Zeit haben würde, hätte mir jeder der anderen Genüsse Intensitäten geboten, die um irgendein, wenn auch noch so kleines Stück größer gewesen wären. Wie jene Abbruchsintensität constructiv gefunden werden kann, läßt sich im Falle zweier Genüsse (nach A. Schwarz) folgendermaßen im Sinne Gossen’s zeigen: Es bedeute die geradlinige Strecke die erwähnte Zeitstrecke . Nun werde von aus in der Richtung die Strecke (siehe oben S. 2) und von aus in entgegengesetzter Richtung aufgetragen, wobei ist; ferner werden in bezw. auf die gleichsinnigen Senkrechten bezw. errichtet, so daß und die Genüsse darstellen, die bereitet werden könnten, wenn zur Verfügung stünde. Will man aber das Genußmaximum finden, das erreicht werden kann, wenn, wie hier, [486] ist, so braucht man nur vom Schnittpunkte der Hypotenusen und eine Senkrechte auf zu fällen; dann gibt der Fußpunkt dieser Senkrechten den Moment der Zeitstrecke an, in welchem der eine Genuß abgebrochen und der andere begonnen werden muß, um ein Größtes an Genuß zu erzielen. Man erkennt leicht, daß die Summe der dem Fußpunkte entsprechenden Genußtrapeze das Maximum darstellt, wenn man beachtet, wie bei jeder anderen Theilung der Zeitstrecke durch irgendeinen zulässigen Punkt die Summe der partiellen Genüsse um das kleiner wird; wobei erhalten wird, indem man die in auf errichtete Senkrechte mit und zum Durchschnitt bringt.
Was das Werthproblem anlangt, so ist der Nutzwerth relativ, denn die Dinge haben nicht unter allen Umständen Werth, sondern nur, wenn sie uns Genuß bereiten und in dem Maße, als sie dies thun, mögen sie diesen Nutzen unmittelbar oder mittelbar, für sich oder in Verbindung mit anderen gewähren; in letzterem Falle ist eine Auftheilung des Nutzwerthes auf die einzelnen Bestandtheile einer solchen Verbindung unmöglich. Aus dem Abnahmegesetz des Genusses folgt das Abnahmegesetz des Werthes: Bei qualitativ demselben Genußmittel sinkt mit steigender Quantität der Werth jedes neu hinzukommenden Atoms – „der Grenznutzen“, wie man seit v. Wieser sagt –, um schließlich Null zu werden. Es besteht daher für jeden Menschen eine obere Grenze der für ihn werthvollen Menge. Ganz analog der Abbruchsnorm des Genießens, läßt sich ferner eine Abbruchsnorm des Werthes beweisen: Kann man sich zwei oder mehrere Arten von Genußmitteln nicht bis zur vollen Bedürfnißbefriedigung verschaffen, so hat man sie in einem solchen Verhältnisse zu erwerben, daß die letzten Atome bei jeder Art noch den gleichen Werth haben. Führt man die Arbeit in den Calcul ein, so hat man zu bedenken, daß die zur Bereitung eines Genusses bezw. Genußmittels nöthige Arbeit zuerst vielleicht als Genuß, von einem gewissen Punkte an aber sicher als Beschwerde empfunden wird. Die zur Bereitung eines Genusses bezw. Genußmittels nöthige Arbeit ist daher nur so lange fortzusetzen, als man gegen die mit ihr verbundene Beschwerde ein Plus an Genuß eintauscht. Daraus ergibt sich für den Fall mehrerer Genüsse, daß der Mensch, um ein Genußmaximum zu erzielen, im Hinblick auf die bezügliche Beschwerde, einen solchen Zeitraum zur Bereitung der partiellen Genüsse zu wählen habe, daß die Endintensitäten aller einzelnen Genüsse übereinstimmen mit dem Maße der Beschwerde am Endpunkte der Kraftäußerung.
Für das Tauschproblem erhält man die der vorigen analoge Abbruchsregel: „Wenn gleiche Quantitäten gegen einander ausgetauscht werden“, ist der Tausch von mir so lange fortzusetzen, als er für mich vortheilhaft ist, d. h. bis der Werth des zuletzt dahin gegebenen Atoms gleich kommt dem Werthe des zuletzt erworbenen. Unter „gleichen Quantitäten“ sollen jedoch jene verstanden werden, „die sich mit gleich großer Arbeitskraft herstellen lassen“. G. ist nämlich der irrigen Ansicht gewesen, daß der Tausch qualitativ verschiedener Tauschdinge eine quantitative Commensurabilität voraussetzt und glaubte, wie später Marx, daß das gemeinschaftliche Maß in der Arbeit bezw. Arbeitszeit gefunden werden könne, die ihre Herstellung erfordert.
Für das Vertheilungsproblem resultirt der Satz: damit für die Menschheit ein Größtes an Werth entstehe, muß sich das verfügbare Quantum der einzelnen Gütergattungen unter alle Menschen so vertheilt finden, daß das letzte Atom, welches jedem von einer jeden dieser Gütergattungen zufällt, jedem den gleichen Genuß (Werth) schafft. Außer durch Beachtung dieser Regeln wird [487] der, übrigens im Zunehmen begriffene, Wohlstand der Menschheit nur dadurch weiter erhöht werden können, daß die Arbeitskraft und Geschicklichkeit steigt und daß die von den verwerthbaren Gegenständen zu erhoffenden Genüsse, ihrer Zahl und Größe nach und der Wahrscheinlichkeit nach, mit der sie zu erhoffen sind, wachsen. Hierbei warnt G. vor der Verwechselung von Werth und Preis. Inwiefern Arbeitstheilung, Tausch, insbesondere Handel und Geldverkehr zur Wohlfahrtsvermehrung beitragen, sowie den Einfluß des Entstehens von Renten erörtert G. an der Hand von Formeln und Figuren. Die Entstehung von Einheitspreisen und des einheitlichen Zinsfußes wird durch die freie Concurrenz erklärt.
Wie alle diese der Güterversorgung dienenden Institutionen durch vieltausendjährige Erfahrungen der ihren eigenen Vortheil verfolgenden Menschen nach einer Art Approximationsmethode der Vervollkommnung zugeführt wurden, so besitzt das Gros der Menschheit in der Sitte eine auf Auslese des Passendsten beruhende Ueberlieferung über den zweckmäßigsten Güterverbrauch, die nur von Pfadfindern neuer, vortheilhafterer Wege übertreten werden darf. Die Wichtigkeit der Social- und Moralstatistik wird hier eindringlich betont. Indem jeder egoistisch das für ihn erreichbare Maximum eigenen Genusses verwirklicht, muß nach G. eben dadurch die Summe des Genusses aller Menschen ein Größtes werden. Allein er widerlegt sich selbst, indem er lehrt, die Monopolisten vermehrten ihren eigenen Lebensgenuß zum Schaden der Gesammtheit. Zugleich stellt G. nunmehr als oberstes Moralprincip die Forderung auf, jeder Mensch habe die größtmögliche Vermehrung des Lebensgenusses der Erdenbewohner schlechthin – nicht bloß des eigenen – anzustreben, ein Princip, mit dem er seiner Eingangs verkündeten egoistischen „Hauptregel“, für jeden sei das eigene Genußmaximum höchster Lebensweck, in derselben Weise wie Bentham und J. St. Mill untreu wird. Aehnlich inconsequent ist es, wenn er einerseits lehrt, alles, was entsteht, sei werth, daß es zu Grunde geht, sofern es sich im Daseinskampfe nicht selbst erhalten könne, und in diesem Sinne: äußerste Freiheit des Eigenthums, Gewerbefreiheit, Abschaffung aller Privilegien, Frauenemancipation, Coëducation, Freizügigkeit, Freihandel und Entstaatlichung des Schul- und Kirchenwesens fordert; andererseits aber dem Staate nicht nur die Rechtsschutzaufgabe zuerkennt, sondern auch die Pflicht auferlegt, für äußerste Wahrhaftigkeit im Verkehre, insbesondere auch für Ursprungscertificate zu sorgen, die Hindernisse, welche den Uebergang von einem Productionszweige zum anderen erschweren, zu beseitigen, das Geldwesen zu ordnen, Papiergeld und Banknoten abzuschaffen, Goldwährung einzuführen, öffentliche Darlehnscassen zu errichten und zu überwachen, endlich sogar den Grund und Boden zum Zwecke der Verpachtung an den Meistbietenden zu verstaatlichen.
Seine Berühmtheit verdankt G. jedoch nicht diesen socialpolitischen Lehren, sondern dem Wahrheitskerne seiner werththeoretischen Untersuchungen. Freilich sind die ihm verwandtesten Denker Menger, Walras und der „Benthamit“ Jevons unabhängig von ihm zu ihren Resultaten gelangt; die von der österreichischen Schule angebahnte Scheidung von Nutzwerth und „wirthschaftlichem Werth“ hat G. nicht gekannt. Auch ist seine Priorität hinsichtlich des unter seinem Namen cursirenden Abnahmegesetzes keine absolute; vielmehr hätte G. hier zum mindesten Aristoteles, Bernoulli und Bentham nennen können. Aristoteles ist überdies frei von gewissen hedonistischen Irrthümern. Durchaus originell ist die, freilich nicht praktikable, Formel für den Abbruch des Genusses und deren Anwendung auf die zu erarbeitenden Werthe und auf das Tausch- und Vertheilungsproblem. Niemand hat endlich in der Weise [488] Gossen’s die Mathematik zum vereinten Zwecke der Deduction und Veranschaulichung in den für die Wirthschaftsphilosophie grundlegenden psychologischen Fragen verwendet, eine Methode, die innerhalb gewisser Grenzen zweifellos der Wissenschaft noch werthvolle Dienste zu leisten vermag.
- W. S. Jevons, The theory of political economy. London, 2. Aufl. 1879. – Leon Walras, Un économiste inconnu. (Journal des Économistes 1885, wieder abgedruckt in Études d’économie sociale. Lausanne 1896, S. 351 f.). – v. Wieser, Der natürliche Werth. Wien 1889. – v. Böhm-Bawerk, Artikel „Werth“ im Handwörterbuch der Staatswissenschaften (daselbst weitere Litteraturangaben), ferner: Oskar Kraus, Zur Theorie des Werthes. Halle 1901. – Ders., die aristotelische Werththeorie in ihrer Beziehung zu den Lehren der modernen Psychologenschule (Zeitschr. f. d. ges. Staatswiss. 1905). – Rudolf Kaulla, Die geschichtliche Entwicklung der modernen Werththeorie. Tübingen 1906. – Lujo Brentano, Die Entwicklung der Werthlehre. München, Verlag d. Akademie, 1908.
[483] *) Zu Bd. XLIX, S. 475.