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ADB:Heinrich von Lettland

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Artikel „Heinrich von Lettland“ von Hermann Hildebrand in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 11 (1880), S. 637–639, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Heinrich_von_Lettland&oldid=- (Version vom 20. November 2024, 08:30 Uhr UTC)
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Heinrich von Lettland. An der Spitze der livländischen Geschichtsschreiber des Mittelalters steht als ihr erster und zugleich berühmtester Repräsentant der Lettenpriester H. Lange als Lette betrachtet, ist er neuerdings allgemein, freilich unter dem Widerspruch des letzten Herausgebers, als Deutscher in Anspruch genommen worden. Noch in jugendlichen Jahren scheint er zuerst im Frühling 1203 in Begleitung des Bischofs Albert von Riga jenen Boden betreten [638] zu haben, dem seine spätere geistliche wie schriftstellerische Thätigkeit gewidmet war. Am bischöflichen Hofe zu seinem kirchlichen Berufe vorbereitet, wird er 1208 als eben geweihter Priester ins Land der Letten ausgesandt, um ihnen die Taufe zu reichen. Dort hat er seinen Sitz aufgeschlagen und ist unter den Wechselfällen nicht endender Kriege Jahre lang thätig gewesen den Neubekehrten „die Glückseligkeit des ewigen Lebens darzulegen“. Mit Bischof Philipp von Ratzeburg, zu dem er während dessen mehrjähriger Anwesenheit in Livland in ein näheres Verhältniß getreten war, sehen wir ihn 1215 zum großen Lateranconcil nach Rom eilen. Heimgekehrt hat er an der Bekehrung des Estenvolkes rastlosen Antheil genommen. Zunächst im Gefolge deutscher Heere, dann, als der zehnjährige Widerstand der Gegner gebrochen, einsam weite Gebiete durchwandernd übt er seinen Beruf aus. In dem darauf zwischen Deutschen und Dänen über die Theilung der Eroberungen ausbrechenden Streite vertritt er gegenüber dem Erzbischof Andreas von Lund die Ansprüche der Seinigen; ein zweiter Bonifacius schlägt er im Haine des Gottes Tharapita die heidnischen Götzenbilder nieder. Im J. 1225 begleitete er dann den Legaten Wilhelm von Modena auf dessen Rundreise durch Livland um uns zum letzten Male zu Anfang des folgenden Jahres missionirend in den estnischen Strandprovinzen zu begegnen. In dieser Periode, dem Jahre 1225 und im Frühling 1226, schrieb er auch sein Geschichtswerk; nur der letzte, dreißigste Abschnitt desselben ist unmittelbar nach der Eroberung Oesels zu Anfang 1227 abgefaßt. Den Anlaß dazu bot die Aufforderung der Landesherrn und Genossen, die, mit dem Schriftsteller zu reden, den Preis, der Christus und und der heiligen Jungfrau gebühre, mit andern Worten die Erinnerung an die von ihnen unter dem Beistande jener himmlischen Beschirmer vollbrachten Thaten der Nachwelt aufbewahren wollten. So entstand sein Buch, in welchem uns in unvergleichlicher Weise die Eroberung und Christianisirung jener livischen, lettischen und estnischen Gebiete geschildert ist, wie sie sich gegenüber dem Widerstand der Eingeborenen unter mannigfachen Rückschlägen und dem hindernden Eingreifen fremder Gewalten durch deutsche Krieger und Priester unter der Leitung des Bischofs Albert von Riga im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts vollzog. Jene große Umwälzung, welche das gesammte Land vom finnischen Meerbusen bis südlich über die Düna hinab, vom Ostseestrande bis an die russischen Grenzen dem Christenthum und fremder Nationalität unterwarf, hat eine ihrer würdige, gleichzeitige, ausführliche und zuverlässige Darstellung gefunden. In erster Linie sind es kriegerische Vorgänge, Feldzüge, Schlachten, Belagerungen, dann die Bemühungen der einzelnen Priester um Verbreitung des Glaubens, die uns aufs Anschaulichste bis in die kleinsten Details durch ihn vorgeführt werden. Nicht leicht ließe sich ein mittelalterlicher Schriftsteller nennen, der mit dem reichen geschichtlichen uns zugleich eine solche Fülle culturhistorischen Stoffs überliefert hätte. Selbst inmitten der geschilderten Ereignisse stehend, nur das berichtend, „was er mit eigenen Augen gesehen oder von Augenzeugen vernommen“, dazu von seinen Auftraggebern, wie sich aus der gelegentlichen Benutzung von Urkunden erkennen läßt, auch mit schriftlichen Aufzeichnungen unterstützt, war er äußerlich vorzüglich für seine Aufgabe ausgerüstet. Auch an der hauptsächlichsten inneren Eigenschaft dazu, der Wahrheitsliebe, hat es ihm nicht gefehlt. Seiner zu Ende gegebenen Versicherung, nicht um Schmeichelei oder eines zeitlichen Vortheils willen geschrieben zu haben, ist voller Glaube beizumessen. Höheren Anforderungen aber als der, genau und in gewisser Vollständigkeit einzelne Thatsachen wiederzugeben, möchte auch er nicht genügen. Nackt, wie sie der Zeit nach hervorgetreten, werden die Begebenheiten hinter einander forterzählt, es bleiben getrennte, durch keinen innern Faden verbundene Thatsachen. Der Verfasser hat gesehen und gehört – der Zusammenhang innerhalb der von [639] ihm geschilderten Periode, die in den Ereignissen liegende Entwicklung ist ihm entgangen. Wenig Verständniß zeigt er im Besondern für die Acte des staatlichen Lebens, denen er in seiner untergeordneten Stellung nie näher getreten zu sein scheint. Viel Wichtiges und ihm jedenfalls Bekanntes übergeht er hier, giebt Anderes ungenau, ja unrichtig wieder. So fördernd endlich der Auftrag der Herrscher in vielfacher Beziehung auf die Arbeit einwirken mußte, so hat er doch andererseits die Folge gehabt, daß in Fällen, wo es sich um die Stellung der Obergewalten zu einander oder zu fremden Mächten handelt, der Schriftsteller uns zwar Wahres, aber nicht die ganze Wahrheit oder die Vorgänge nur andeutungsweise überliefert hat. – Des Lateinischen bedient er sich mit Gewandtheit; seine Ausdrucksweise, die er selbst eine bescheidene nennt, die meist breit und behaglich, dabei lebhaft und anschaulich ist, steigert sich hier und da zu höherem Schwunge, zu biblisch-poetischer Auffassung. In dem Lobliede auf die heilige Jungfrau, mit dem er die Vertreibung des dänischen Vogts aus Riga feiert, hat sich wahrhaft religiöse Begeisterung auch seinen Worten mitgetheilt. Auf die livländischen Chronikenschreiber, namentlich die des 16. und 17. Jahrhunderts, hat das Werk Heinrichs nicht unbedeutenden Einfluß geübt. Dem Druck ward es zuerst im J. 1740 durch J. D. Gruber in Hannover übergeben, leider nach einer spätern Handschrift, in der die Worte des Autors durch die erklärenden Zusätze eines Lesers des 16. Jahrhunderts vielfach verdunkelt und entstellt erscheinen. Erst mit der neuerdings in den Monumenta Germaniaeauf Grund des vortrefflichen Zamoyski’schen und eines jüngern rigischen Codex veranstalteten Ausgabe ist hier für die Forschung ein sicherer Boden gewonnen.

Heinrici Chronicon Lyvoniae ed. Wilh. Arndt in Monumenta Germaniae hist. SS, XXIII, p. 231 seq.; H. Hildebrand, Die Chronik Heinrichs von Lettland, Berlin 1865.