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ADB:Ludwig I. (Großherzog von Hessen und bei Rhein)

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Artikel „Ludwig I., Großherzog von Hessen und bei Rhein“ von Philipp Walther in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 19 (1884), S. 551–557, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ludwig_I._(Gro%C3%9Fherzog_von_Hessen_und_bei_Rhein)&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 07:15 Uhr UTC)
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Ludwig I., Großherzog von Hessen und bei Rhein seit 1806, vorher unter dem Namen Landgraf Ludwig X., Landgraf von Hessen-Darmstadt, wurde am 14. Juni 1753 zu Prenzlau in der Ukermark, wo sein Vater, der Erbprinz Ludwig von Hessen-Darmstadt, der nachmalige Landgraf Ludwig IX., als Oberst des preußischen Regiments Selchow in Garnison stand, geboren. Seine erste Jugend verbrachte er hier und in Buchsweiler im Elsaß, der Hauptstadt der damals im hessen-darmstädtischen Besitz befindlichen hanau-lichtenbergischen Lande. Der Pflege des gesunden und kräftigen Kindes widmete sich zunächst seine Mutter, Henriette Caroline von Zweibrücken-Birkenfeld, die „große Landgräfin“, wie sie denn auch die spätere Erziehung des jungen Prinzen fortdauernd im Auge behielt und mit der größten Sorgfalt überwachte. Im 13. Lebensjahre des Prinzen, also 1766, siedelte der mütterliche Hof – der Vater lebte in Pirmasens ganz seinen militärischen Liebhabereien – von Buchsweiler nach Darmstadt über. Hier wurde die Ausbildung Ludwigs so gefördert, daß er schon beim Antritt des 17. Lebensjahres für zum Besuch der Universität hinreichend vorbereitet erklärt werden konnte. Leyden, die berühmteste Hochschule der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wurde gewählt. Der Prinz begab sich im Herbst 1769 dahin, begleitet von dem Geheimrath v. Belisari und dem Hofrath Leuchsenring. Die Studien in Leyden dauerten zwei volle Jahre. Im J. 1772 wurde eine Reise nach England und von da nach Paris unternommen. In Paris hatte L. Verkehr mit den Encyklopädisten Diderot, d’Alembert und Grimm. Letzterer, ein Freund der großen Landgräfin, mit der er in stetem Briefwechsel [552] stand, wurde nun des Prinzen Begleiter. Beide gingen über Darmstadt nach Berlin, wo sie bis Mitte August 1773 verweilten. Zu den Feierlichkeiten der Vermählung seiner Schwester, der Prinzessin Wilhelmine von Hessen-Darmstadt mit dem Großfürsten Paul von Rußland, späterem Kaiser, begab sich L. nach Petersburg (Herbst 1773). Dort blieb er mit Grimm und Diderot den Winter über. Den Feldzug der Russen gegen die Türken im J. 1774 machte er als russischer Brigadier mit. Nach dem Frieden von Silistria (21. Juli 1774) kehrte er nach Petersburg zurück und blieb dann dort noch ein weiteres Jahr, bis September 1775. Die Rückkehr aus Rußland erfolgte über Berlin und Weimar. An letzterem Orte verweilte L. einige Zeit an dem Hofe seines Schwagers, des Herzogs Karl August. Bald nach seiner Rückkunft nach Darmstadt erfolgte im März 1776 die Verlobung des Erbprinzen mit der Prinzessin Dorothea Auguste, Tochter des Herzogs Friedrich Eugen von Württemberg. Dieses Verhältniß sollte indessen nicht von langer Dauer sein. Im April 1776 starb die Schwester des Prinzen, die Gemahlin des Großfürsten Paul von Rußland, und bereits im Juni desselben Jahres veranlaßte die Kaiserin Katharina II. von Rußland die Verlobung des kaum verwittweten Großfürsten Paul mit der Braut seines Schwagers, der vorerwähnten Prinzessin von Würtemberg. Die edle Natur Ludwigs wurde durch diesen Treubruch schwer beleidigt. Um sich zu zerstreuen, folgte er im Sommer 1776 einer Einladung seines Schwagers Karl August von Weimar und verweilte den Sommer über an dessen Hof. Goethe, Wieland, Herder u. A. machten damals diese Stadt zum Mittelpunkt des geistigen Lebens in Deutschland. Erbprinz L. nahm regen Antheil an dem geistigen und geistreichen Treiben und Thun des Weimarer Hofes. Er schloß sich eng namentlich an Goethe an. Im Herbst 1776 kehrte L. nach Darmstadt zurück und vermählte sich bald darauf – kaum 24 Jahre alt – mit Luise Karoline Henriette, Tochter seines Oheims, des Landgrafen Georg von Darmstadt. Das junge Paar residirte nun abwechselnd – bis 1790 – in Darmstadt und – namentlich des Sommers über – in dem schönen Auerbach an der Bergstraße, der Prinz in fortwährender Verbindung mit dem Weimarer Hofe und den dortigen Geistesheroen. Auch Schiller, der damals in Mannheim weilte, erhielt mehrmals Einladungen an den prinzlichen Hof, ein Verkehr, der später fortgesetzt wurde. Dabei wurde die Musik eifrig gepflegt. Es fanden musikalische Aufführungen statt, bei denen L. selbst dirigirte. In diesem Geistesleben vergaß der Prinz nicht der Pflichten des künftigen Fürsten. Namentlich widmete er einen großen Theil seiner Zeit dem Militärdienst. Dreizehn Jahre verlebte L. so in ruhiger und doch geistig belebter Zurückgezogenheit. Da starb am 6. April 1790 sein Vater, Landgraf Ludwig IX. und Erbprinz L. trat als Landgraf L. X. die Regierung der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt an. Schwere Zeiten begannen nun für das Land und den jungen Landgrafen. Die 1789 ausgebrochene französische Revolution war unaufhaltsam fortgeschritten und bald hatten sich ihre Wirkungen in Deutschland fühlbar gemacht. Wenn auch kaum ein Stand eine gewaltsame Staatsumwälzung in Deutschland wünschte, so war doch die Stimmung des Mittelstandes überall gegen die Vorrechte des Adels und das Mißverhältniß gerichtet, in welchem die bestehenden Staatsformen zu den Anschauungen der Gegenwart standen. Wol herrschte auch in Hessen-Darmstadt eine ähnliche Stimmung, allein der Landgraf hatte sich durch seine feste Ruhe, wie durch sein gütiges Benehmen die allgemeine Liebe und Achtung in einem so hohen Grade erworben, daß sich nie Unruhen in seinem Lande zeigten. Seine Unterthanen hielten selbst dann unwandelbar zu ihrem Fürsten, als die Franzosen in Deutschland einbrachen und den durch ihre Fürsten angeblich unterdrückten Deutschen die lockenden und verführerischen Grundsätze der Freiheitsmänner [553] predigten. Im April 1792 brach der Krieg zwischen Frankreich einerseits und Kaiser und Reich andererseits aus. L. bewies jetzt seine Reichstreue. Er schickte ein viel stärkeres Contingent gegen die Franzosen, als man es nach Verhältniß der Bevölkerung und Kräfte seines Landes zu erwarten hatte. Der Erfolg neigte sich gleich anfangs auf die Seite der Franzosen. Rasch fielen Mainz und Frankfurt a./M. in ihres General Cüstine Hände. L. verlor den auf dem linken Rheinufer liegenden Theil der Grafschaft Hanau-Lichtenberg, – früher schon, vor Ausbruch der Feindseligkeiten, waren ihm seine Besitzungen im Elsaß durch Beschluß der französischen Nationalversammlung vom 4. August 1789 entrissen worden –. Die hessischen Truppen kämpften in diesem Kriege zuerst auf Seiten der Preußen, dann – nach dem Separatfrieden von Basel – auf Seiten der Oesterreicher und theilweise auch unter englischer Führung in Holland. So lange noch Hoffnung blieb, den Fortschritten der französischen Macht wirksamen Widerstand leisten zu können, hielt L. fest zu Kaiser und Reich. Als aber durch den Frieden von Campo Formio (1797) Mainz und das ganze linke Rheinufer in die Hände der Franzosen und deren Macht seinem Lande dadurch unmittelbar nahe kam, da nahm er die ihm vom General Bernadotte angetragene Neutralitätsconvention mit Frankreich an, als das einzige Mittel, wodurch er sich und seinem Lande die Selbständigkeit bewahren konnte (3. März 1799). Nach dem Luneviller Frieden (9. Febr. 1801), der dem Krieg zwischen Oesterreich und dem Deutschen Reich einerseits und Frankreich andererseits ein Ende machte und dem Reich eine Gebietseinbuße von 1240 □Meilen mit mehr als 4 Millionen Einwohner kostete, begannen in Paris wegen der deutschen Angelegenheiten vorläufige Unterhandlungen zwischen Preußen, Oesterreich, Rußland und Frankreich. Diese Verhandlungen wurden später in Regensburg fortgesetzt und fanden im Reichsdeputationshauptschluß am 25. Februar 1803 ihren Abschluß. L. verlor damals folgende Gebietstheile: 1) die Grafschaft Hanau-Lichtenberg jenseits des Rheins an Frankreich, 2) die hanau-lichtenbergischen Aemter Lichtenberg und Willstädt diesseits des Rheins an Baden, 3) die Aemter Braubach, Katzenellenbogen, Ems, Kleeberg, die Herrschaft Eppstein und das Dorf Weiperfelden an Nassau, zusammen 40 □Meilen mit 100 000 Einwohnern. Ferner verzichtete er auf sein Schutzrecht über Wetzlar und erhielt für dieses Alles die pfälzischen Aemter Lindenfels, Umstadt, Otzberg und die Reste von Oppenheim und Alzey, die mainzischen Aemter Gernsheim, Bensheim, Heppenheim, Lorsch, Fürth, Steinheim, Alzenau, Vilbel, Rockenburg, Haßlach, Astheim und Hirschhorn, die mainzischen Besitzungen im Darmstädtischen diesseits des Mains, den Rest des Bisthums Worms, die Reichsstadt Friedberg, die Abteien Seligenstadt und Marienschloß, die Propstei Wimpfen und das Herzogthum Westfalen, zusammen 103 □Meilen mit 218 000 Einwohnern. Dagegen übernahm der Landgraf eine Million Gulden Schulden auf die neuerworbenen Lande, sowie die Verpflichtung, die Einkünfte der Linie Hessen-Homburg um ein Viertel zu erhöhen und dem Fürsten Sayn-Wittgenstein 15000 Gulden jährlich zu zahlen. – Die eingetretene Friedensruhe dauerte nur kurze Zeit. Schon im J. 1805 brach der Krieg zwischen Oesterreich und Frankreich von neuem aus. Gewiß würde der Landgraf, seiner früheren Politik getreu, sich Oesterreich angeschlossen haben, allein die schnellen und entscheidenden Siege Napoleon Bonapartes gestatteten ihm nicht, Stellung gegen Frankreich zu nehmen. Trotzdem lehnte L. das Bündniß mit dem Sieger anfangs mit der Erklärung ab, seine Pflicht bände ihn an das Deutsche Reich und sein Oberhaupt. Als aber im Herbste 1805 die Aufforderung zum Bündniß unter Drohungen wiederholt wurde, entschloß sich L. zu Unterhandlungen, die im [554] Laufe des Jahres 1806 – 12. Juli – damit ihren Abschluß fanden, daß Baiern, Baden, Württemberg, Hessen, Nassau, sowie einige kleinere Fürsten unter dem Protectorate Napoleons zum Rheinischen Bunde zusammentraten. L. nahm als L. I. den Titel Großherzog und das Prädikat Königliche Hoheit an. Der Gewinn dieses von der Nothwendigkeit gebotenen Schrittes war eine abermalige Gebietserweiterung. Mehrere Reichsstände wurden der hessen-darmstädtischen Landeshoheit unterworfen, so die Grafen Solms-Wittgenstein, Löwenstein, Stollberg, Leiningen, Ilbenstadt und Erbach, ferner die Burggrafschaft Friedberg, die Herrschaft Schlitz, ein kleiner Theil des hanauischen Landes und das fuldaische Amt Herbstein, zusammen etwa 122 000 Einwohner. Auch kam Hessen-Homburg an das neue Großherzogthum Hessen. Die errungenen Vortheile mußten aber theuer erkauft werden. Der neue Großherzog mußte, wie alle übrigen Fürsten des Reinbundes, Theil nehmen an allen Kriegen, die Napoleon führte. Gegen Preußen und Oesterreich, in Spanien und Rußland kämpften hessische Truppen auf französischer Seite. Die Schuldenlast des kleinen Hessenlandes wuchs beträchtlich, der Wohlstand der Bewohner wurde zu Grunde gerichtet und es war eine nicht hinreichende Schadloshaltung, als Napoleon 1809 und 1810 dem Großherzog weiter die Souveränität über verschiedene kleine Gebietstheile einräumte. Der Rückzug des Gewaltherrschers aus Rußland, die Erhebung des preußischen Volkes im J. 1813 brachte endlich den ersehnten Umschwung. Noch in der Schlacht bei Leipzig kämpften die Hessen auf Seite der Franzosen. Ihre Tapferkeit deckte den Rückzug der geschlagenen Armee. Als die letztere auf dem Weg nach dem Rhein dem Hessenland nahe gekommen war, begab sich Großherzog L. zu seiner persönlichen Sicherheit nach Mannheim und schickte gleichzeitig den wirklichen Geheimrath (späteren Staatsminister) Frhrn. du Thil in das Hauptquartier der bei Hanau stehenden österreichischen und baierischen Truppen. Am zweiten Tage nach der Schlacht bei Hanau (2. Novbr. 1813), in welcher Fürst Wrede die Trümmer der französischen Armee nochmals schlug, wurde zu Dörnigheim in einer Convention der Beitritt des Großherzogs zur Allianz der Großmächte erklärt. Am 5. desselben Monats verkündigte L. bei seiner Rückkehr von Mannheim das neue Bündnißverhältniß im Lande. Die Wiederherstellung des in den vorausgegangenen Schlachten fast gänzlich vernichteten Militärs wurde angeordnet, ferner die Errichtung eines Bataillons freiwilliger Jäger und eine allgemeine Landesbewaffnung. Die hessischen Truppen standen unter dem Oberbefehl des Prinzen Emil, des Sohnes des Großherzogs, der bereits das Commando des hessischen Contingents in Rußland geführt hatte. Der zweite Pariser Frieden (20. November 1815) beendete die große kriegerische Epoche. Dem Wiener Congreß fiel die Aufgabe zu, den politischen Verhältnissen wieder eine feste Gestaltung zu geben und die neuen Staatenbildungen der Napoleonischen Zeit möglichst mit den alten Besitztiteln in Einklang zu bringen. Wenn dadurch Hessen-Darmstadt weder an Flächeninhalt noch an Seelenzahl vergrößert wurde, so gewann doch das Land an Rundung und Zusammenhang, nicht minder auch an Fruchtbarkeit und Wohlstand der ihm einverleibten Länder. In Folge der Beschlüsse des Wiener Congresses und der besonderen Verträge, welche mit den betheiligten Staaten in den J. 1815 und 1816 abgeschlossen wurden, trat der Großherzog ab: 1) an Preußen das Herzogthum Westfalen und die Souveränetät über die Grafschaft Wittgenstein, 2) an Baiern das Amt Alzenau und die Souveränetät über Miltenberg, Amorbach und Heubach; 3) an Hessen-Kassel einige kleinere Bezirke und 4) wurde Hessen-Homburg wieder vom Großherzogthum getrennt und souverän. Dagegen wurden mit dem Großherzogthum vereint: 1) der größere Theil des seitherigen Departements Donnersberg mit den Städten Mainz, Bingen, Alzey und Worms nebst [555] den Salinen von Kreuznach, die jetzige Provinz Rheinhessen; 2) die Landeshoheit über den größten Theil der gräflich isenburgischen, der solms-rödelheimischen und der ingelheimischen Besitzungen. Der Flächeninhalt des so abermals umgestalteten Staates betrug in seinen neuen Besitzverhältnissen etwa 150 □Meilen mit (1817) 629 359 Einwohnern. Der neue Staat erhielt den Titel Großherzogthum Hessen und bei Rhein. Keine kleine Aufgabe trat jetzt an L. heran. Sein Land, dessen einzelne Theile in den vorhergegangenen Jahren mehrmals den Herrn gewechselt hatten, war zusammengesetzt aus den heterogensten Bestandtheilen. Oberhessen mit mehr norddeutschem Charakter sollte verschmolzen werden mit Rheinhessen, das ganz abgesehen von der großen Verschiedenheit des Charakters seiner Bewohner in Folge der langjährigen französischen Herrschaft halb französirt war; die kleineren standesherrlichen Besitzungen mußten in das größere Ganze eingefügt werden. Dabei war der Wohlstand der Bewohner des Ganzen durch die steten Kriege tief erschüttert, der Staat selbst verschuldet. Wenn trotzdem L. bei seinem Ableben ein wohlgeordnetes Staatswesen hinterließ, wenn die Wunden des Krieges so rasch, wie geschehen, vernarbten und bald wieder Wohlstand und Zufriedenheit herrschte, so ist das hauptsächlich das persönliche Verdienst des Großherzogs, der sofort nach den Friedensschlüssen die Friedensarbeit energisch begann. Zunächst war er bemüht, Sparsamkeit in alle Zweige der Verwaltung einzuführen und beschränkte besonders die Ausgaben seiner Hofhaltung, soviel es seine Würde gestattete. Wenn er trotzdem im Jahre 1816 den Bau eines neuen Theaters begann, so mag ihn dazu neben der Liebe zur Kunst auch die Erwägung geleitet haben, durch Herstellung öffentlicher Bauten den ärmeren Volksclassen Verdienst und Beschäftigung zu geben. Viel wichtiger und einschneidender waren die Einrichtungen und Veränderungen, welche die Verwaltung des Landes erfuhr. Die Trennung der Verwaltung von der Justiz wurde durchgeführt. Ein neues Gesetzbuch, nach dem Muster des österreichischen abgefaßt, wurde eingeführt. Alle Staatsfrohnen wurden abgeschafft und im J. 1816 – zuerst in Deutschland – die Ablösbarkeit der Zehnten verordnet. Bereits durch Gesetz vom 25. Mai war die Leibeigenschaft aufgehoben worden. Das hierüber erlassene großherzogliche Edict sagt wörtlich: „Wir finden die Leibeigenschaft weder dem Geiste der Zeit, noch der Würde angemessen, die wir bei unseren geliebten Unterthanen als Staatsbürgern anerkannt haben wollen“. Die Landwirthschaft und insbesondere die Viehzucht, wurde durch Belehrung und durch jede Art der Aufmunterung und Erleichterung wesentlich verbessert. Durch die Damm- und Flußbauten, welche die Regierung mit großem Kostenaufwand und Sorgfalt ausführen ließ, erhielten die an den Flußufern gelegenen Dörfer mehr Sicherheit und wurde Landeigenthum gewonnen. Die Vermehrung und Verbesserung der Straßen erleichterte den Verkehr und hob dadurch Handel und Gewerbe. Endlich krönte L. sein Werk, indem er seinem Volk im J. 1820 eine zeitgemäße Constitution gab. Zwar bestanden schon früher Landschaften, die gemeinschaftlich aus den gesammten hessischen Landen sich bald in Kassel, bald in Darmstadt versammelt hatten, allein sie waren seit schon mehr als 100 Jahren nicht mehr zusammenberufen worden und ganz in Vergessenheit gerathen. Nachdem L. bereits auf dem Wiener Congreß der Einführung einer Verfassung zugestimmt hatte, erließ das hessische Staatsministerium unterm 16. Februar 1819 eine Bekanntmachung, worin das Versprechen des Großherzogs kundgegeben wurde, es solle die erste ständische Versammlung im Mai 1820 stattfinden und vor diesem Zeitpunkte eine Verfassungsurkunde bekannt gemacht werden. Diese Urkunde wurde durch das Edict vom 18. März 1820 publicirt. Da indessen diese Verfassung nicht mit den Ständen vereinbart war, so erregte sie vielfach Unzufriedenheit. Hierauf ließ L. durch sein Ministerium [556] die Erklärung abgeben, daß das vorliegende Verfassungsedict vom 18. März 1820 blos die Vorschrift, nach der sich die Stände zu benehmen hätten, keineswegs aber die versprochene Verfassung selbst sei, daß es vielmehr des Großherzogs Wille sei, diese in Berathung mit den Ständen zu Stande zu bringen. Am 27. Juni 1820 eröffnete nun L. in Person die auf Grund des Edicts zusammenberufene Ständeversammlung mit einer Thronrede, die mit folgenden denkwürdigen Worten schloß: „Die Propositionen, die ich Ihnen machen lasse, werden hoffentlich zu Ihrer Befriedigung gereichen. Ihre gegründeten Wünsche und Vorschläge werde ich mit Vergnügen hören und überall gerne helfen, wo zu helfen ist. Ich habe meinen Behörden befohlen, daß sie Ihnen mit Vertrauen und Offenheit entgegenkommen sollen. Thun Sie das Gleiche, dann werden wir Alle glücklich und Vielen ein Muster sein“. Die Stände des Landes beriethen nun in Gemeinschaft mit der Regierung die neue Verfassung. Am 21. December 1820 konnte dieselbe, nachdem sie von L. vollzogen, verkündet und den Ständen feierlich übergeben werden. Der Inhalt der Verfassungsurkunde unterscheidet sich nicht wesentlich von allen übrigen, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Deutschland erlassenen. Es werden gewisse Staatsbürgerrechte stipulirt und das Zweikammersystem eingeführt. Nur eine Bestimmung verdient gerade hier besonders hervorgehoben zu werden, weil sie die Hochherzigkeit Ludwigs I. ins rechte Licht zu stellen geeignet. Der Großherzog übergab nämlich ein Dritttheil seiner sämmtlichen Domänen nach dem Durchschnittsertrag der reinen Einkünfte dem Staat zum allmählichen Verkauf und behufs Verwendung des Ertrags zur Tilgung eines Theils der Staatsschulden. Die anderen zwei Dritttheile erhielten die Bestimmung, ein schuldenfreies, unveräußerliches Eigenthum der großherzoglichen Familie für immer zu bleiben. Doch sollten die Einkünfte in die Staatskasse fließen und nur die Civilliste und die Apanagen in erster Linie daraus bestritten werden. – So wichtig die Ertheilung einer Verfassung für Hessen war, nicht minder wichtig war ein anderes Werk Ludwigs, das allerdings nach außen wirkte, aber so mächtig, daß es füglich als der erste Anfang zur Gründung des heutigen Deutschen Reichs betrachtet werden kann. Das Großherzogthum Hessen war der erste deutsche Staat, der mit Preußen eine Zolleinigung einging. Die Uebereinkunft beider Staaten, welche mit dem 1. Januar 1828 in Wirksamkeit trat, enthielt bereits die hauptsächlichsten Bestimmungen, welche wir in den späteren Zollvereinigungsverträgen finden. Zu diesem Vertrag hatte Hessen die Anregung gegeben. Als derselbe, dessen Abschluß in tiefes Geheimniß gehüllt war, ruchbar wurde, entstand im Großherzogthum Hessen, namentlich in Darmstadt, eine unbeschreibliche Aufregung. Man sprach davon, Minister du Thil habe das Land an Preußen verkauft. Der Großherzog L. aber hielt seinen Minister und äußerte zu ihm: „Was kümmert uns das Alles? Nichts ist geschehen ohne meinen Willen; ich habe mir die Sache wohl überlegt, bin mit Allem zufrieden und gratulire mir dazu. An das Geschwätz der Leute kehre ich mich nicht. Was können sie Ihnen denn anhaben ohne mich. Und dessen können Sie versichert sein, daß ich Sie nicht fallen lasse“. Der preußisch-hessischen Zolleinigung trat zunächst Kurhessen bei und nach und nach folgten alle deutschen Staaten. Die preußisch-hessische Zolleinigung hatte sich zum deutschen Zollverein erhoben. – Neben diesem erfolgreichen und vielseitigen Wirken auf dem Gebiete der Politik und Verwaltung förderte L. unablässig die Künste und Wissenschaften. Der Neubau eines Theaters wurde bereits erwähnt. Ein Museum wurde ebenfalls angelegt. Goethe sagt im ersten Hefte seines Werkes über Wissenschaft und Kunst am Rhein darüber: „Ein außerordentlicher Reichthum, vortrefflich geordnet und zusammengestellt; man findet hier Meisterstücke der Kunst aus allen Jahrhunderten und Zeiten“. [557] Die bereits von dem Landgrafen Ludwig VI. gegründete Hofbibliothek wurde beträchtlich vermehrt, so daß sie unter fortwährender Vermehrung noch jetzt eine der ersten Büchersammlungen Deutschlands ist. Die Hauptstadt des Großherzogthums, Darmstadt, wurde wesentlich verschönert und vergrößert; die Zahl seiner Einwohner stieg von 9000 auf 16 000. – Soweit die Entwickelung des Staates, an dessen Spitze L. stand. Seine Person und der hessische Staat sind so innig verwoben, daß eine Schilderung der ersteren nothwendig ein großes Stück wichtiger hessischer Geschichte mit umfassen muß. L. starb am 6. April 1830, genau 40 Jahre nach seinem Regierungsantritte. Seine Gemahlin, mit der er 53 Jahre lang in glücklicher Ehe gelebt hatte, war ihm am 24. October 1829 im Tode vorausgegangen. Sie hatte ihm 8 Kinder, 5 Söhne und 3 Töchter, geboren. Das dankbare Hessenvolk errichtete seinem Fürsten, der ihm eine freie Verfassung gegeben, zu Darmstadt ein Standbild.

Steiner, Ludwig I., Offenbach 1842. Supplement I, Darmstadt 1866. Supplement II, Darmstadt 1869.