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ADB:Michelet, Karl Ludwig

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Artikel „Michelet, Karl Ludwig“ von Adolf Lasson in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 842–844, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Michelet,_Karl_Ludwig&oldid=- (Version vom 17. Dezember 2024, 04:16 Uhr UTC)
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Michelet *): Karl Ludwig M., Philosoph, wurde zu Berlin geboren am 4. December 1801. Der Vater war Kaufmann; die Eltern beide gehörten der Gemeinde französischer Calvinisten an, die infolge der Aufhebung des Edictes von Nantes aus Frankreich nach Berlin übergesiedelt waren. Die französische Abstammung machte sich in Michelet’s Persönlichkeit und auch wohl in seiner wissenschaftlichen Arbeit bemerkbar; er selber hat sich die Aufgabe zugeschrieben, zwischen deutschem und französischem Wesen zu vermitteln. Der Knabe besuchte seit 1814 das französische Gymnasium zu Berlin. 1819 bezog M. die Berliner Universität. Er wendete sich Schleiermacher zu, hörte auch die Vorlesungen des jüngeren Fichte, aber in der Hauptsache betrieb er das Studium der Rechtswissenschaft. Die Vorlesungen von Hegel über Rechtsphilosophie und über Logik wurden seit dem Jahre 1821 für seine weitere wissenschaftliche Entwicklung entscheidend. Er hörte bis 1824 sämmtliche Vorlesungen Hegel’s und war damit für die Philosophie überhaupt und insbesondere für die seines großen Lehrers gewonnen. Der Plan, akademischer Lehrer der Philosophie zu werden, ließ sich fürs erste nicht verwirklichen. M. bestand die erste juristische Prüfung 1822 und trat als Auscultator beim Stadtgericht ein. Aber schon im J. 1824 begehrte und erlangte er die Entlassung aus dem Amt, erwarb auf Grund einer Dissertation „De doli et culpae in iure criminali notionibus“ die philosophische Doctorwürde, bestand die Prüfung für das Lehramt und wirkte fortan als Lehrer am französischen Gymnasium ein Vierteljahrhundert hindurch 1825–1850. Aber der Gedanke an eine akademische Lehrthätigkeit ließ ihn nicht los. Im J. 1826 bewirkte [843] er seine Habilitation an der Berliner Universität, an der er dann als gern gehörter Lehrer eine sich weithin erstreckende Wirksamkeit geübt hat, bis das hohe Alter ihm seit 1874 das Einstellen seiner Lehrthätigkeit auferlegte. Im J. 1829 wurde er zum außerordentlichen Professor, auf Anlaß seines neunzigsten Geburtstags zum ordentlichen Honorarprofessor ernannt. Am 15. December 1893 ist er gestorben.

M. ist als Anhänger der Hegel’schen Philosophie mit Wort und Schrift überaus thätig gewesen, immer bereit zur Vertheidigung Hegel’s gegen die Widersacher. Innerhalb der Hegel’schen Schule gehörte er derjenigen Richtung an, die man wohl als die linke Seite bezeichnet, und die die Lehren des Meisters nicht sowohl im Sinne der Vertheidigung des vorhandenen Bestandes in Staat, Gesellschaft und Kirche, sondern vielmehr im Sinne der Opposition deutete, auch mit dem praktischen Streben, den Anforderungen der Idee in der Wirklichkeit Raum zu schaffen. Eine solche Gesinnung war nicht geeignet, ihm bei den Trägern der politischen Gewalt seit dem Jahre 1840 Gunst zu verschaffen. So hatte er mancherlei Anfechtungen, auch recht kleinlicher Art, zu bestehen, ohne sich dadurch beugen zu lassen. Er gehörte seit 1827 der „Societät für wissenschaftliche Kritik“ an, die die „Jahrbücher für wissenschaftliche Kritik“, lange Zeit das Organ der Hegel’schen Schule, herausgab. Nach Hegel’s Tode betheiligte er sich an der Herausgabe von Hegel’s Werken. M. hat Bd. I der Werke, „Hegel’s philosophische Abhandlungen“, Bd. VII, 1, die „Naturphilosophie“, Bd. XIII–XV, die „Geschichte der Philosophie“, herausgegeben. Einen großen Theil seiner Zeit und seiner Arbeitskraft widmete er der „Philosophischen Gesellschaft zu Berlin“, die er in Verbindung mit dem Grafen Cieszkowski im J. 1843 gründete als Mittelpunkt für die philosophischen Studien im Sinne Hegel’s, der er aber auch treu blieb, als in ihr ganz andere Richtungen die Oberhand gewannen. Einen hervorragenden Antheil hatte M. an den erfolgreichen Bemühungen für ein in Berlin zu errichtendes Denkmal Hegel’s, das 1871 feierlich enthüllt worden ist.

Als Schriftsteller ist M. zuerst mit Studien über Aristoteles hervorgetreten. 1827 erschien: „Die Ethik des Aristoteles in ihrem Verhältniß zum System der Moral“, woran sich 1828 das „System der philosophischen Moral“, 1829 die Textausgabe der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, 1835 und in zweiter Ausgabe 1848 der Commentar zu diesem Buche anschloß. Im Jahre 1835 gewann er neben Ravaisson den Preis der französischen Akademie mit einer Arbeit über Aristoteles’ Metaphysik, die 1836 unter dem Titel „Examen critique de l’ouvrage d’Aristote intitulé la Métaphysique“ in Paris im Druck erschienen ist.

Von seinen sonstigen Werken nennen wir die „Geschichte der letzten Systeme der Philosophie in Deutschland von Kant bis Hegel“, 2 Bde., 1837–1838; ferner „Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes“, drei Gespräche, 1844, 1847, 1852; „Die Geschichte der Menschheit in ihrem Entwicklungsgange von 1775 bis auf die neuesten Zeiten“, 1859–1860; „Naturrecht oder Rechtsphilosophie“, 2 Bde., 1866; „Das System der Philosophie als exakter Wissenschaft“, 5 Bde., 1876–1881, wo Logik, Naturphilosophie, Geistesphilosophie und Philosophie der Geschichte behandelt ist. Die Zeitschrift „Der Gedanke“ hat M. als Schriftführer der Philosophischen Gesellschaft 1860 bis 1866 herausgegeben; Fortsetzungen erschienen noch bis 1884. In letzterem Jahre veröffentlichte M. auch die Schrift „Wahrheit aus meinem Leben“, in der er mit der Gesprächigkeit des Alters alles, was ihm irgendwie denkwürdig erschien, in behaglicher Breite darlegte.

M. schreibt sich nicht mit Unrecht einen hitzigen Charakter zu, aber auch [844] einen außerordentlichen Forschungstrieb; sein gesammtes Leben sei „von der Idee durchdrungen“ gewesen. Jedenfalls beseelte ihn ein lebendiges Streben für die idealen Güter, wie er sie erfaßte. Eine Reihe von Abhandlungen über Kunstwerke, besonders der Antike, beweist sein Interesse an der Kunst, und auch an den praktischen Fragen des politischen und kirchlichen Lebens hat er sich rege betheiligt. Für die Verbreitung Hegel’scher Gedanken ist er mit Erfolg thätig gewesen, wenn ihm auch schöpferisches Vermögen in höherem Grade nicht zuerkannt werden kann.


[842] *) Zu Bd. LII, S. 376.