ADB:Moltke, Maximilian Leopold
König Friedrich Wilhelm III. Das Immediatgesuch ging aus der königlichen Privatkanzlei durch alle Instanzen und gelangte schließlich zur Begutachtung in die Hände des Küstriner Schulinspectors, dessen Söhnen M., selbst noch Schüler, privatim Nachhülfeunterricht ertheilt hatte. Wol hatten Moltke’s Lehrer diesem und seiner Mutter versichert, daß sie ihm das beste Zeugniß ausgestellt hätten, dennoch erging aus dem Cabinet des Königs ein ablehnender, jeder Begründung entbehrender Bescheid. Erst nach Jahren hat ein Zufall in Frankfurt a. O. M. erfahren lassen, daß der Küstriner Schulinspector in ungünstigem Sinne über M. der Regierungsvertretung in Frankfurt berichtet habe und daß gleichzeitig Moltke’s Privatschülern ein Stipendium damals ausgewirkt worden sei.
Moltke: Maximilian Leopold M. wurde in Küstrin am 18. September 1819 geboren. Er entstammt, wie alle Träger seines Namens, dem weitverzweigten Geschlecht der Moltke’schen Adelsfamilie. Sein Großvater, der mecklenburg-strelitzische Kammerherr und Oberjägermeister Karl v. M., war der letzte, der in diesem Familienzweige den Adel führte. Moltke’s Vater Gustav Ludwig M. war dieses Karl v. M. einziges Kind und sollte nach dem Willen seines Vaters Oekonomie studiren, um dermaleinst des Vaters Güter zu übernehmen. Abneigung gegen den landwirthschaftlichen Beruf und Liebe und Neigung zur Jurisprudenz trieb ihn zum Studium der letzteren. Da Karl v. M. seinem Sohn für dessen Widerstand gegen den väterlichen Willen jede weitere materielle Unterstützung beim Studium entzog, trat eine dauernde Entfremdung zwischen Vater und Sohn ein, die bis an das Grab anhielt. Gustav Ludwig’s feingeistiger Gattin, der Tochter eines begüterten Küstriner Zimmermeisters, gelang es jedoch, mit dem durch widrige Geschicke (namentlich in den Freiheitskriegen) um seine Güter und um sein Vermögen gebrachten Schwiegervater Karl v. M. wenigstens einen brieflichen Verkehr einzuleiten und aufrecht zu erhalten. Ihr Gatte, Moltke’s Vater, welcher in Küstrin als besoldeter Stadtrath angestellt war, führte, wol ebenfalls ostentativ dem Vater gegenüber, das Adelsprädicat „von“ nicht mehr. Er starb, als sein Sohn noch Kind war. Unter der liebevollen körperlichen und geistigen Pflege der Mutter, die ihn anfangs sogar in der lateinischen Sprache unterrichtete, später als ein besonders begabter und lerneifriger Schüler der Lateinschule seiner Vaterstadt, entwickelte sich M., welcher Theologie zu studiren gedachte, aufs beste. Die Franzosenzeit hatte auch den Großvater mütterlicherseits völlig mittellos gemacht, so daß M. auf Stipendien für das Universitätsstudium angewiesen war. Um ein solches bewarb M. sich, ohne Wissen seiner Mutter und Lehrer, beiUm seine schönsten und durchaus berechtigten Hoffnungen betrogen, trat M., nachdem er die Lateinschule absolvirt hatte, in Berlin als Lehrling in ein [459] Colonialwaarengeschäft, vertauschte diese Stellung jedoch sehr bald mit einem Lehrlingsposten in einer im selben Hause befindlichen Sortimentsbuchhandlung. Nach beendigter Lehrzeit kam er nach Frankfurt a. O. als Buchhandlungsgehülfe. Von hier aus veröffentlichte er im J. 1841 seine erste Gedichtsammlung „Heideblümchen“, deren Herausgabe er in späteren Jahren selbst als verfrüht bezeichnete, da ein großer Theil ihres Inhaltes der poetischen Reife entbehrte. Durch das Studium entsprechender Lectüre mit dem Land und Volk der Siebenbürger Sachsen vertraut geworden, hegte er den Wunsch, aus eigener Anschauung die Verhältnisse dieser Wächter an der Grenze des Deutschthums kennen zu lernen. Um diesem Ziele näher zu kommen, nahm er eine Stelle als Buchhandlungsgehülfe in Tirnau an, ging von dort nach Pest und trat endlich in gleicher Eigenschaft – durch Vermittlung des ihm väterlich gesinnten bekannten Buchhändlers Hartleben in Pest – in die Nemet’sche Buchhandlung in Kronstadt in Siebenbürgen ein. Des Landes, besonders um Kronstadt, hervorragend herrliche Naturschönheit und des deutschen Siebenbürgervolkes jahrhundertelanges heldenhaftes Kämpfen und Ringen um das heilige Gut seines Deutschthums ergriff des Jünglings Seele aufs mächtigste. Aus der Tiefe seines für alles Große, Ideale und Schöne fast zu empfänglichen Herzens schrieb er im Mai 1846 das Lied „Siebenbürgen, Land des Segens, Land der Fülle und der Kraft“, das ihn bei dem Volke, dem er es sang, dessen Nationalhymne es sehr bald wurde, unsterblich gemacht hat. Dieses und manches andere Lied aus der Zeit seines siebenbürgischen Aufenthalts gehört zu dem Schönsten, was Moltke’s Lyrik umfaßt. Sein Streben ging in Kronstadt vornehmlich dahin, das Deutschthum auf jedwede Art zu beleben. Nicht nur durch das geschriebene Lied, sondern auch durch das gesungene deutsche Lied wollte er die nationale Begeisterung entflammen. So wurde er einer der eifrigsten Gründer des Kronstädter Männergesangvereins. Auch der zu seiner Zeit in Kronstadt erscheinenden deutschen Zeitung, dem „Siebenbürgischen Wochenblatt“, widmete er zuerst durch seine Mitarbeiterschaft, dann als Redacteur seine Kräfte. Als solcher gab er dem Blatte den Namen, unter dem es, zur Tageszeitung ersten Ranges ihrer Stadt geworden, heute noch erscheint: „Kronstädter Zeitung“. Seine Thätigkeit als Redacteur währte nur sehr kurze Zeit.
Die Stürme der Revolution rissen auch M. mit sich fort. Sein Glaube, durch die Betheiligung an der ungarischen Erhebung der Sache Deutschlands und mittelbar auch dem Deutschthum der Siebenbürger Sachsen zu dienen, bestimmte ihn, in die ungarische Armee einzutreten, mit der Waffe seine Hoffnungen, seine Wünsche, seine Ideen zu verwirklichen. Durch eine Losreißung Ungarns von Oesterreich erhoffte er eine derartige Schwächung des Donau-Kaiserreiches, daß Deutschland, losgelöst von dem Drucke des mächtigen Habsburger-Reiches, selbst freier erstehen und somit seinen Volksgenossen im Auslande ein Schutz, ein Schirm, ein Achtung gebietender Rückhalt werden könne. Im Mai 1849 verließ M. Siebenbürgen. General Bem nahm M. in die Honved-Armee auf und ernannte ihn zum Lieutenant. Am 13. August 1849 empfing er in der Schlacht bei Vilagos die Feuertaufe und zugleich traf ihn das Unglück, mit Tausenden seiner Waffengefährten erst in russische, dann in österreichische Kriegsgefangenschaft zu gerathen. Auf dem Transport begegnete er auf der Landstraße seiner jungen, ihm erst ein Vierteljahr vorher angetrauten Frau (einer Siebenbürger Sächsin), welche, ihn suchend, den unglücklichen Kriegern nachgeeilt war. Im Angesicht Tausender von Schicksalsgenossen, die nicht wußten, ob sie als „Rebellen“ dem beliebten Hängesystem der „Hyäne von Brescia“ (des Generals v. Haynau) zum Opfer fallen [460] würden, nahmen Beide herzzerreißenden Abschied in der Gewißheit des letzten Lebewohls. Görz, Laibach und Pola waren zunächst die Städte, in denen M. gefangen gehalten wurde. Seine Intelligenz, sein gerades, offenes und ehrliches Wesen öffneten ihm die Herzen selbst seiner feindlichen Vorgesetzten, so daß M., schließlich nach Triest commandirt, zwar als gemeiner Soldat und Gefangener, dennoch die weitgehendste persönliche Freiheit genoß, dank derer er mit der Intelligenz von Triest, die ihn liebevoll aufnahm und in deren Kreisen. er sich Freunde fürs Leben erwarb, verkehren und Triests herrliche Umgebung genießen konnte. In seiner Eigenschaft als Bataillonsschreiber mußte er die Befürwortung seiner eigenen Ernennung zum Corporal und – nach zweiundeinvierteljähriger Gefangenschaft – sein behufs Begnadigung erforderliches Führungsattest abfassen. „Frei wie nie zuvor“ ließ er die Gattin kommen, um mit ihr, als ehemaliger Rebell ausgewiesen, Oesterreich zu verlassen. Er hat Siebenbürgen, das „Land seiner Sehnsucht“ nicht wieder gesehen. Sein erstes Kind war während seiner Gefangenschaft geboren und gestorben, ohne daß er es hätte in die Arme nehmen können.
Von Triest ging M. über Wien nach seiner Vaterstadt Küstrin, im Jahre 1852 nach Berlin. Moltke’s idealer Sinn war nie auf Erwerb gerichtet. In geschäftlicher Beziehung von einer geradezu unglaublichen Naivetät, überließ er die Honorarforderung stets der „Güte“ seines Auftraggebers und wurde so weidlich mißbraucht und ausgebeutet. Aber auch in selbständigen Unternehmungen erwies er sich als geschäftlich durchaus unpraktisch, so daß das Leben ihm ein gerüttelt volles Maaß von Sorge und Entbehrung bot. Zahlreiche litterarische Unternehmungen zerschlugen sich am Mangel der materiellen Mittel, sie lebenskräftig zu machen. Als deutscher Sprachforscher von großer Gründlichkeit schuf er sich durch zahlreiche Beiträge für wissenschaftliche Zeitschriften, namentlich aber durch die von ihm selbst herausgegebene und geleitete Zeitschrift „Deutscher Sprachwart, Zeitschrift für Kunde und Kunst, Hege und Pflege, Schirm und Schutz unserer Muttersprache“ einen Namen, den selbst manche sprachwissenschaftliche Absonderlichkeiten nicht zu schmälern vermochten. Doch der Kämpfer ums Dasein, dem wol die geistigen Fähigkeiten zur Durchführung des trefflich angelegten Planes eigen waren, ermangelte auch diesmal der greifbaren Bürgschaften zur Erhaltung des Unternehmens. Wol sind neun Jahrgänge unter den ermunternden Zurufen hervorragender Fachleute, unter denen sich auch die Brüder Grimm befanden, erschienen, aber diese Jahre haben dem Streiter für die deutsche Muttersprache, die „reine Braut“, außer leeren, billigen Complimenten nur Noth und Sorge gebracht. Für die launenhafte „Sybille der romantischen Litteraturperiode“, für Bettina v. Arnim, hat er ein gut Theil seiner Schaffenskraft bei den Vorarbeiten für den Commissionsverlag ihrer sämmtlichen Werke aufgerieben. Doch als er dem herrischen Charakter der wankelmüthigen, excentrischen Frau männlich entgegentrat, verwandelte sie ihre übersprudelnde Liebenswürdigkeit in das schroffe Gegentheil. Er, der nie sich den Rücken durch Contracte deckte, wol aber dem Partner die weitgehendsten Concessionen machte, war, wie später so oft, plötzlich, wenn man ihn wie eine Citrone ausgepreßt hatte, entbehrlich geworden.
M. hätte als Buchhändler Großes leisten können. Seine buchhändlerischen Fähigkeiten waren derart, daß M., wenn er sich hätte entschließen können, seine Selbständigkeit aufzugeben, sich in jeder der besten Buchhandlungen einen dominirenden Posten hätte erwerben können. Dann hätte er in seinen Mußestunden durch seine litterarische Lieblingsthätigkeit mehr zu leisten vermocht, als zu leisten ihm in Wirklichkeit die litterarische Tagelöhnerarbeit Zeit übrig [461] ließ. Nach Leipzig im J. 1864 übergesiedelt, widmete er sich neben dem auch hier nothwendig bleibenden „Bücherfabrikantenfrohn“ dem Studium seines Lieblingsdichters, Shakespeare’s. Er gab eigene und von ihm bearbeitete Uebersetzungen Anderer der Werke Shakespeare’s heraus, die ihm den Ruf eines beachtenswerthen Shakespeare-Forschers eintrugen, der oft um seinen Rath angegangen wurde. Die Zahl seiner sonstigen Schriften ist groß. Die Sammlung seiner eigenen Gedichte erlebte vier Auflagen. Diese Kinder seiner Muse zeichnen sich durch besondere Formenschönheit und dadurch aus, daß ihrer viele zur volksthümlichen Composition geradezu herausfordern. M. selbst hat eine ganze Anzahl seiner Gedichte in schlichter, aber wirksamer Weise vertont. Als eine seiner besten Singweisen sei das tief ergreifende, von ihm auch gedichtete „Volksgebet der Siebenbürger Sachsen“ genannt. Auch der Jugend hat M. gedient. Im J. 1869 gab er eine Sammlung Wiegenlieder unter dem Titel „Was die deutsche Mutter ihrem Kindlein singt“ heraus, ferner veröffentlichte er eine Bearbeitung des „Robinson“, dann solche von Lossius’ „Gumal und Lina“, von Houwald’s „Buch für Kinder“, von desselben „Bilder für die Jugend“ und von Becker’s „Erzäh1ungen aus der alten Welt“. Auch diverse Anthologien verdanken M. ihr Erscheinen oder ihre Neubearbeitung. In N. A. Niendorf’s (s. diesen) Ausgabe des Nibelungenliedes (1854) ist die größere zweite Hälfte von M. übersetzt worden, was der Herausgeber freilich nur in einer Fußnote bekennt.
Sein siebzigster Geburtstag wurde M. ein Ehrentag sondergleichen, einer der wenigen wirklich sonnenreichen Tage seines Lebens. Deputationen und Glückwünsche kamen von allen Seiten. Der greise Feldmarschall Moltke war der erste, der mit herzlichen Worten eine Ehrengabe übersandte. Schon in den fünfziger Jahren traf er in Berlin öfter mit dem großen Strategen zusammen, der ihm damals manchen guten Rath ertheilte, nicht selten vor allen Dingen praktischeren Geschäftssinn anempfahl. M. gedachte gern der überaus liebenswürdigen Gemahlin des Helden, an welcher er „das Wohlthuende ihres freundlichen, heiteren Temperamentes, ihr freudiges Eingehen auf jedes Gesprächsthema, die Milde ihrer Beurtheilung und die Herzlichkeit ihres Mitempfindens“ rühmte. „Sie ergänzte in allen diesen Eigenschaften den schweigsamen urtheilsstrengen Gemahl, der im Stillen ein freudiger Gehülfe war am Amboß fremden Glückes.“
An der Schwelle des Greisenalters angelangt, lief M. in einen einigermaßen sichern Hafen ein. Die Handelskammer zu Leipzig hatte ihre ansehnlichen Bücherbestände durch M. katalogisiren lassen, um die dann geordnete Bibliothek dem Publicum zugänglich zu machen. M. selbst, dem seine buchhändlerische Ausbildung hierbei trefflich zu statten kam, erhielt den Posten des ersten Bibliothekars (1884), den er bis zu seinem am 19. Januar 1894 nach kurzem Todeskampfe erfolgten Ableben innehatte. Seine irdische Hülle ruht auf dem Johannisfriedhofe in Leipzig. Der einstige Theilnehmer an der ungarischen Volkserhebung war ein glühender deutscher Patriot geworden oder richtiger: geblieben, der im J. 1866 ein Lied dichtete: „Der Landesfürst von Preußen soll deutscher Kaiser heißen“, der in inniger Liebe an seinem greisen Kaiser hing und mit patriotischem Stolze zum großen Kanzler aufb1ickte. Bis zum letzten Tage geistig und körperlich frisch, hat er ein vierundsiebzigjähriges Leben in treuer Arbeit vollbracht, bis an den Tod reich an litterarischen Arbeitsplänen, die, wenn ihm nicht nur die geistigen, sondern auch die materiellen Mittel eigen gewesen wären, segensreich hätten wirken können. Bei Moltke’s Tode erschienen Lebensskizzen in vielen Tages- und Fachzeitschriften. Eine ausführliche Biographie aus der Feder seines Sohnes, zugleich [462] Amtsgenossen und Nachfolgers (M. überlebten außer diesem Sohne von acht Kindern nur eine Tochter) ist im Manuscript vorhanden und soll dem Druck übergeben werden. Ihr erster, bis zur Ausweisung aus Oesterreich reichender Theil, ist im „Siebenbürgisch-Deutschen Tageblatte“ im J. 1896 erschienen.