Zum Inhalt springen

ADB:Nagel, Lorenz Theodor

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Nagel, Lorenz Theodor“ von Wilhelm Sillem in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 563–565, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Nagel,_Lorenz_Theodor&oldid=- (Version vom 23. November 2024, 02:21 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Meyer, Jürgen Bona
Band 55 (1910), S. 563–565 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Lorenz Theodor Nagel in der Wikipedia
Lorenz Theodor Nagel in Wikidata
GND-Nummer 138674183
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|55|563|565|Nagel, Lorenz Theodor|Wilhelm Sillem|ADB:Nagel, Lorenz Theodor}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=138674183}}    

Nagel *): Lorenz Theodor N. (nicht Theodor Lorenz), geboren in Schwabach 1828, ein Sohn des dortigen Conrectors, † als Secretär der Gewerbekammer in Hamburg am 13. September 1895. Da der Vater als Studienlehrer nach Nürnberg versetzt worden war, beendete N. hier seine Gymnasialstudien und zwar mit „Auszeichnung“, um von 1845–48 in Erlangen Philosophie zu studiren und in Leipzig 1848–49 Jura. Er war eifriger Burschenschafter, schwärmte für die deutsche Einheit und wurde mit seinen Freunden, zu denen u. a. auch der Finanzminister Miguel und Parlamentarier Wehrenpfennig gehörten, in die Wirbel des Revolutionsjahres 1848 hineingezogen. An den Barrikadenkämpfen in Dresden nahm er nach seinem eigenen Geständniß Theil als „ungefährlicher Freiheitskämpfer“, da seine Kurzsichtigkeit ihn zwang, ins Blaue zu schießen. In München vollendete er seine juristischen Studien und arbeitete dann eine Zeitlang als Rechtsconcipient in Nördlingen. Dann übernahm er 1854 in Braunschweig die Redaction der „Blätter der Zeit“, eines Organs der „Nationalen Demokratie“. Als nach einem Jahre dies Blatt unterdrückt wurde, wandte er sich nach Wiesbaden, fand dort, ohne seine publicistische Thätigkeit aufzugeben, Beschäftigung im Bureau des Anwaltes Wilhelmi und erwarb sich hier den Ruf eines geschickten, fleißigen und zuverlässigen Anwalts.

Nagel’s Ansichten über die Mittel und Wege zur Einigung Deutschlands hatten sich seit 1848 abgeklärt. Die Extravagenzen des Radicalismus hatte er zur Genüge kennen gelernt, als bewußter und warmer Protestant konnte er nicht für die Hegemonie des katholischen Oesterreichs schwärmen, als nüchterner und scharfblickender Politiker sich ebensowenig für die sogenannte Triasidee begeistern, und obwohl geborener Bayer, stand ihm Preußens Beruf zur Führung und Sammlung Deutschlands fest. In verschiedener Weise arbeitete er zunächst für die Aufgaben des 1859 von Rud. von Bennigsen[WS 1] und Brater gegründeten Nationalvereins, zunächst 1860 auf ein Jahr als Secretär desselben in Coburg, dann 1863 als Redacteur der von Brater gegründeten „Süddeutschen Zeitung“ in Frankfurt a. M.; endlich vom März 1865 als Geschäftsführer und Ausschußmitglied des Vereins bis zu dessen Auflösung im November 1867. Obgleich seit dem 21. October desselben Jahres mit der Wittwe des Kaufmanns Koch in Oberursel bei Frankfurt, Frau Wilhelmine Johannette geb. Lamsbach verheirathet, hat er seinen Wohnsitz mehrfach gewechselt, sich auch u. a. 1863 in Bonn zu theologischen und philosophischen Studien aufgehalten.

Es wäre eine Verkennung Nagel’s, den vielfachen Wechsel seiner Beschäftigung auf Unbeständigkeit oder eine zerstreuende Vielgeschäftigkeit zurückführen zu wollen. N. war eine tief innerliche Natur, den, wie sein Freund [564] Jul. Eckardt sagt, ein mystisch-philosophischer Zug immer wieder zur Vertiefung in religiöse und metaphysische Fragen hinleitete. Hiermit verband er einen durchdringenden Scharfsinn in seinen Forschungen, die ihm Herzenssache waren. Wie er sich bisher der Politik zugewandt hatte, so erkannte er auch, schon ehe sich die sogenannten Kathedersocialisten 1872 mit den socialen Fragen beschäftigten, daß diese namentlich von Lassalle damals aufgestellten Probleme nicht durch Schulze-Delitzsch’sche Kleinbürgervereine zu lösen seien. J. H. Wichern hatte schon längst in den „Fliegenden Blättern des Rauhen Hauses“ auf die Noth der Arbeiter hingewiesen und auf die Gefahren, die aus derselben durch eine glaubenslose Demokratie der bestehenden Gesellschaftsordnung drohten. Auf dem 15. Congreß für Innere Mission 1869 hatte der Nationalökonom Prof. Nasse in Bonn einen Vortrag gehalten über den Antheil der Inneren Mission an der Lösung der Arbeiterfrage. Infolgedessen beschloß im Juni 1870 eine Conferenz unter Nasse’s Vorsitz zu Rheineck, der Wichern und Bethmann-Hollweg nebst hervorragenden Arbeitgebern wie Stumm aus Neunkirchen, Delius aus Bielefeld, Carl Sarrasin aus Basel beiwohnten, die Herausgabe der Zeitschrift „Concordia“, die sich mit Einrichtungen zum Wohle der Arbeiter, der Wohnungsfrage, Invalidenwesen derselben, Unterricht der Kinder u. a. befassen sollte. N. wurde zum Redacteur der Concordia gewählt, „die Jahre hindurch eine weithin anerkannte Wirksamkeit entfaltet hat“ (Fr. Oldenberg, J. H. Wichern. Hamburg 1887, Bd. II, 365/67).

Die Herausgabe der „Concordia“ führte N. von 1870–1876 nach Berlin. Hier knüpfte er auch Verbindungen mit der Leitung des „Hamburgischen Correspondenten“ an. Zunächst suchte er aber in den Jahren 1877/79 in Süddeutschland und in Heinrichsbad in Appenzell Sammlung und Erholung nach der aufreibenden Thätigkeit eines Redacteurs. In Erlangen hielt er sich zu Studien zeitweise auf. Die Frucht derselben ist das leider nur im ersten Theile erschienene Werk: „Der christliche Glaube und die menschliche Freiheit“, Gotha 1881, 1. u. 2. Auflage. Dem Werke ist ein offener Brief an Rudolf v. Bennigsen[WS 2] vorgedruckt. Dieser war, als N. eingehend mit ihm philosophische Fragen discutirte, ein Anhänger der Schopenhauer’schen Philosophie gewesen, während N. erfüllt war von den kirchlichen Aufgaben der Zeit. Die Verschiedenheit der damaligen Standpunkte beider behinderte aber nicht die gegenseitige hohe Anerkennung. Nagel’s Werk machte berechtigtes Aufsehen. Den Inhalt kurz zusammenfassend kann man sagen, daß es sich um die Frage handelt, ob es eine Pflicht zu glauben gibt und wie sich diese Pflicht zur menschlichen Freiheit verhält. „Mit dem Herzen stand der Verfasser auf Seiten derer, die mit dem Christenthum strengsten und rücksichtslosesten Ernst machten. Theilnahme an dem Leben der Gemeinde, an dem Gottesdienst und an der Liebesthätigkeit derselben waren ihm zum Herzensbedürfniß geworden, – theologisch stand er dagegen auf liberalem, streng kritischem Standpunkte“ (Eckardt).

Nagel’s Lieblingswunsch ist wohl einst gewesen, sich dem akademischen Lehramte zu widmen. Aber Rücksichten des äußeren Lebens nöthigten ihn, im October 1879 in Hamburg die früher angeknüpften Verbindungen mit dem „Hamburgischen Correspondenten“ wieder aufzunehmen und in der Redaction desselben eine seiner hervorragenden Bedeutung angemessene Stellung einzunehmen. Freilich war N., der nach Concentration und Sammlung verlangte, wieder in die Unruhe der Publicistik hineingerathen. Aus diesem Zwiespalt wurde er nun in Hamburg zunächst durch die Bekanntschaft mit dem Vorsitzenden der Gewerbekammer, dem Architekten Bauer, s. Z. auch Reichstagsabgeordneten für einen Hamburger Wahlkreis, befreit. Man hatte [565] sehr bald Nagel’s umfassende Kenntnisse auf volkswirthschaftlichem und socialpolitischem Gebiete schätzen gelernt, und die Gewerbekammer wählte demnach N., als er noch nicht ein volles Jahr in Hamburg zugebracht hatte, am 5. October 1882 zu ihrem Secretär. Der Senat bestätigte umgehend die Wahl und verband nach zwei Jahren mit dieser Stellung das Secretariat der neu errichteten Aufsichtsbehörde für die Innungen und ernannte ihn 1890 zum Staatscommissar für die Invaliditäts- und Altersversicherung. Es war N. hierdurch, wie Eckardt schreibt, „eine Stellung geboten, die günstiger war als seine bisherigen und zugleich ihm und den Seinigen zu einer Heimath verhalf.“

Es ist erklärlich, daß er bei einer solchen Arbeit nicht die Muße fand, dem ersten Theil seines oben genannten Werkes den zweiten Theil folgen zu lassen. Denn neben allen Gutachten und Berichten ließ er sich angelegen sein, allen Gewerbetreibenden vom Meister bis zum Lehrling, Arbeitgebern und Arbeitnehmern ein treuer Berather und, wo er konnte, auch Helfer zu sein. „Nicht geringe Anerkennung und aufrichtige Dankbarkeit hat er durch diesen Theil seiner Thätigkeit geerntet. Vor allem war es seine Wahrhaftigkeit und sein nie zu beugendes Rechtsgefühl, wodurch er sich die unbedingte hohe Achtung Aller erwarb.“ Fast fünfzehn Jahre hat er sich dieser mühevollen Thätigkeit gewidmet. Am 17. August 1895 war er zuletzt in der Gewerbekammer. Ein schon längere Zeit schleichendes Lungenleiden zwang ihn, die Arbeit abzubrechen. Nach schwerer Krankheit entschlief N. sanft „im Vertrauen auf Gott und in der Hoffnung auf die Rechtfertigung durch den Glauben“ am 13. September 1895. Mit der Gattin und den drei Kindern trauerte um den Entschlafenen die große Zahl derer, die ihn im Leben schätzen und lieben gelernt hatten. Der anonyme Freund J(ulius). E(ckardt). schloß den N. gewidmeten Nachruf mit den Worten: „An Productivität und Fähigkeit zur Zusammenfassung[WS 3] seiner Kräfte ist er von so manchem, der mir begegnet, übertroffen worden, – an Adel der Gesinnung von keinem. Auch von ihm kann gesagt werden, daß er, ,was uns alle bändigt‘ – ‚das Gemeine‘, weit hinter sich gelassen habe.“

Zwei Nachrufe sind nach Nagel’s Tode erschienen, beide unter dem Titel: „Zum Gedächtniß des Herrn L. Th. Nagel“; der eine, in 4° zwei Seiten mit Nagel’s Photographie, ist offenbar von der Gewerbekammer herausgegeben. Der andere, 16 Seiten in 8°, unterzeichnet –t– ist von dem einstmaligen Senatssecretär Dr. Jul. Eckardt verfaßt. – Wo obige Angaben von diesen beiden Nachrufen in geringfügigen Daten abweichen, beruht die Richtigstellung auf Familiennachrichten des Assessors Dr. jur. Karl Hermann Otto Nagel. – Außer diesem Sohne hinterließ Nagel die Stieftochter Therese Koch, später Frau Baurath Straßberger in Schweidnitz und eine Tochter Elisabeth Nagel.

[563] *) Zu Bd. LII, S. 571.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Benningsen
  2. Rudolf von Bennigsen (1824–1902); war ein liberaler deutscher Politiker im 19. Jahrhundert.
  3. Vorlage: Zusammensammenfassung