ADB:Orges, Hermann Ritter von
*): Hermann Ritter von O., Dr. phil., Publicist, geboren zu Braunschweig am 12. April 1821, † in Wien am 9./10. Juni 1874. – Der Vater war braunschweigischer Artillerieofficier, der in der westfälischen Armee gedient hatte. Auch der Sohn betrat, nachdem er das Gymnasium seiner Vaterstadt absolvirt hatte, die militärische Laufbahn, und zwar in Preußen, wofür der Umstand entscheidend war, daß der Vater mit dem General v. Radowitz befreundet war. Im April 1838 trat er als Kanonier bei der in Erfurt stationirten 4. preußischen Artilleriebrigade ein, wurde im Herbst nach Ablegung der erforderlichen Prüfungen zum Besuch der Artillerie- [566] und Ingenieurschule in Berlin commandirt, wo er mit Rüstow eng befreundet wurde, kehrte aber im J. 1842 zu seiner Brigade zurück. Zu seiner weiteren Ausbildung dienten größere Reisen, sowie die Theilnahme an deutschen und französischen Kriegsübungen. Ehrgeizig und strebsam, meldete er sich zum Besuch der allgemeinen Kriegsschule in Berlin, in die er nach gut bestandener Prüfung im J. 1845 aufgenommen wurde. Zugleich hörte er, für Mathematik und Naturwissenschaften besonders begabt, Vorlesungen an der Universität bei Dove, Lejeune-Dirichlet, Rose, Ritter, Ehrenberg u. s. w. und erwarb hier auch den Doctorhut. Den vorgeschriebenen Dienst in den anderen Waffen leistete er bei dem 4. Dragonerregiment in Deutz und beim 10. Infanterieregiment in Breslau, bei dem er sich besonders durch Einführung eines selbständig erdachten Turnsystems verdient machte. Er war Lieutenant in Berlin, als die Revolution von 1848 ausbrach, die ihn aus der begonnenen militärischen Laufbahn werfen sollte. Während des Barrikadenkampfes am 18. März richtete er in Uniform, doch nicht dienstlich betheiligt, an eine Abtheilung Soldaten die Aufforderung, nicht auf das Volk zu schießen – „patriotische Uebereilung des Friedensstifters“; er behauptete nämlich, es erst gethan zu haben, nachdem er zuvor auch beim Volk einen Friedensversuch gemacht. Andern Tages, am 19., reichte er sein Entlassungsgesuch ein und entfernte sich aus Berlin. Er ging nach Rendsburg, wo er der schleswig-holsteinischen Artillerie zugewiesen wurde. Hier gerieth er in Conflict mit den preußischen Officieren, was ihn veranlaßte, den Militärdienst ganz aufzugeben. Anstatt der Gewährung seines Entlassungsgesuchs war er aus den Listen der preußischen Armee gestrichen worden, weil er sich ohne Erlaubniß ins Ausland begeben hatte. Die Geschichte seiner Entlassung erzählte er in einer Broschüre: „Einleitung zur Geschichte des preußischen Militärsystems der Gegenwart“ (1898).
OrgesNeigung, Anlage und Erziehung hätten ihm ohne Zweifel im Militärdienst günstige Aussichten eröffnet. Als „leidenschaftlichen Soldaten“ hat er sich noch in späteren Jahren bezeichnet, und auch als Schriftsteller hat er sich viel mit militärischen Dingen beschäftigt; gern breitete er seine kriegswissenschaftlichen Kenntnisse aus, auf Clausewitz pflegte er sich als auf seine Autorität mit Vorliebe zu berufen. Aber starke Neigung war es auch, die ihn jetzt, zum Verzicht auf diese Laufbahn gezwungen, aufs Meer und nach fremden Ländern trieb. Noch im Herbst 1848 ging er nach Hamburg, um sich durch einen Cursus auf der dortigen Navigationsschule vorzubereiten. Als freiwilliger Matrose nahm er dann Dienst auf einem hamburgischen Schiff, „Wolga“, das unter russischer Flagge segelte und nach Rio de Janeiro ging. Die folgenden Jahre waren mit Fahrten auf verschiedenen Schiffen und nach verschiedenen Weltgegenden ausgefüllt, und auf diesen Reisen bildete sich der ehemalige Officier zum Schriftsteller aus. Durch Berichte, die er für die Allgemeine Zeitung schrieb: „Aus Australien“, „Auf einer Reise um die Welt“, „Ueber die Industrieausstellung zu London 1851“, setzte er sich in Verbindung mit dem genannten Blatte, das den gewandten und unterrichteten Mitarbeiter bald in wichtigen Aufträgen verwendete: Baron Cotta sandte ihn nach dem Staatsstreich des 2. December 1851 nach Paris, und bei dem Ausbruch des Krimkriegs 1853 nach Constantinopel, wo für den angehenden politischen Schriftsteller die Bekanntschaft mit dem damaligen k. k. Internuntius, Frhrn. v. Bruck, von Wichtigkeit wurde. Nunmehr ganz zum Journalisten geworden und des Wanderlebens müde, wünschte O. selber an der Redaction der Allgemeinen Zeitung theilzunehmen. Vorerst noch ohne feste Anstellung, trat er [567] im J. 1854 in Augsburg ein. Ungern hatte ihn Baron Cotta in Constantinopel verloren.
O. kam mit einer hohen Meinung vom Beruf der Presse und vom Beruf der Allgem. Zeitung insbesondere, zugleich mit einer hohen Meinung von sich selbst und mit einer erstaunlichen Arbeitskraft, mit dem starken Willen, zu wirken und Einfluß zu gewinnen. War die Redaction, von vorübergehenden Hülfskräften abgesehen, bisher ganz in süddeutschen Händen gewesen, so trat nun ein ausgesprochen norddeutsches Element in dieselbe ein, scharf, bestimmt, herrisch, rücksichtslos. Schon im Aeußeren, in Haltung und Sitten, stach der gewesene Officier mit der ritterlichen Erscheinung, der gewandte Weltmann und Weltreisende merklich ab von den gelehrten Doctoren, die gewohnt waren, von der stillen Carmelitergasse aus die Weltbegebenheiten zu beobachten. Neu war in diesen Räumen ein Dialektiker, der in so unerschöpflichem Redefluß sich für seine Ansichten verstritt. Natürlich war ein College hochwillkommen, der so frisch ins Zeug ging, so willig zur Arbeit war, so viel Welterfahrung mitbrachte. Er war zudem in einer Zeit gekommen, da die Mitarbeit einer jüngeren Kraft besonders erwünscht sein mußte. Kaum war er eingetreten, so starb Mebold, der eine Hauptredacteur, von der Cholera weggerafft; im nächsten Jahre, 1855, wurde Kolb, der leitende Kopf der Redaction, von schwerer Krankheit befallen, und im September 1856 traf ihn ein Schlaganfall, von dem er sich nie mehr ganz erholen konnte, obwohl er fortan seine Arbeit that und auch die Leitung behielt. Altenhöfer aber, der Junggeselle und Eigenbrödler, lebte ganz innerhalb seines streng abgegrenzten Arbeitsgebiets und kümmerte sich um nichts, was außerhalb desselben lag. Unter diesen Umständen wuchs der Einfluß des jungen, thatenlustigen Redacteurs. Dem geschwächten Kolb begannen die Zügel aus der Hand zu gleiten, und es konnte nicht zweifelhaft sein, wer sie ergreifen würde. In kurzem war es O., der die Correspondenz mit den Eigenthümern der Zeitung in Stuttgart führte; geschäftig unterhielt er nach auswärts einflußreiche Verbindungen, auf eigene Faust knüpfte er mit politischen Persönlichkeiten und mit Staatskanzleien an, und sein Reformeifer für die Zeitung glaubte auch in deren inneren Betrieb und Organisation einen neuen Zug bringen zu müssen. Gewiß konnte er triftige Gründe für sich anführen, wenn er auf eine straffere Ordnung, auf ein zweckmäßigeres Zusammenarbeiten nach bestimmten Zielen drang. Allein begreiflicherweise stieß er dabei auf die Macht der Gewohnheit und der Tradition als auf starke Hindernisse. Insbesondere war es der Baron v. Cotta, der den Eifer des Reformers zügelte und vor allem der Aufstellung bestimmter Programmpunkte durchaus widerstrebte. Ein formulirtes politisches Programm – das war ganz gegen die bisherige Führung des Blattes, das seinem Namen gemäß ein allgemeiner Spiegel der Zeitverhältnisse sein und in deutschen Dingen sämmtlichen Gliedern gleichmäßig dienen wollte, während O. darin ein Mittel sah, auf die allgemeine Meinung wie auf die Regierungen in bestimmtem Sinne einzuwirken. Nun stimmten wohl seine Ideen mit den Ansichten des Herrn v. Cotta wie mit denen seiner Redacteure im wesentlichen zusammen, allein bisher war ein sozusagen persönliches Hervortreten der Redaction vermieden worden. Den größten und wichtigsten Theil des Inhalts der Zeitung bildeten die Berichte von auswärts, aus den Mittelpunkten der europäischen Politik, aus den deutschen und außerdeutschen Culturstätten. Die Sichtung, Ordnung und Verarbeitung dieses Materials war das Hauptgeschäft in Augsburg gewesen, und dabei hatten sich die Persönlichkeiten der Redacteure in bescheidenem Hintergrund gehalten. Eine Aenderung dieser [568] wesentlich anonymen Thätigkeit wünschte man weder in Stuttgart noch in Augsburg.
Orges’ eigentliches Arbeitsgebiet in der Redaction war Frankreich und im Anschluß daran Belgien und die iberische Halbinsel. Aus Paris hatte er einen leidenschaftlichen Haß gegen Napoleon III. mitgebracht. Den Staatsstreich des 2. December, dessen nächste Wirkungen er an Ort und Stelle miterlebte, hat er ihm nie verziehen. Gegen den „zweiten December“ hat er von Anfang an einen schonungslosen Kampf geführt. Die innere Corruption des Kaiserreichs, wie die Gefahren, die von seiner auswärtigen Politik dem Weltfrieden drohten, war seine Feder unermüdlich den Zeitgenossen vorzuhalten. Die ganze romanische Welt sah er im Verfall. Der „Niedergang der romanischen Völker“ gehörte auch zu seinen Schlagworten. Wenn er im Gegensatz dazu der germanischen Welt eine große Zukunft zusprach, so verstand er darunter das ganze Deutschland, so weit die deutsche Zunge klingt, Oesterreich eingeschlossen, dem er den Beruf zuschrieb, deutsche Cultur nach Osten zu tragen. Dazu brauchte er aber ein regenerirtes Oesterreich, ein Oesterreich, das durch angestrengte Arbeit den Vorsprung einholte, den die anderen Glieder besaßen, und darum war er unermüdlich, dem „Donaureich“ seine Pflichten einzuschärfen. In Wien fand man ihn einen unbequemen Mahner, weshalb der Baron v. Cotta von dort manchen Vorwurf zu hören bekam. Durch die wirthschaftliche Hebung der österreichischen Völker, durch die Entwicklung ihrer natürlichen Hülfsquellen sollte die innere Festigung der Monarchie wie ihre Verschmelzung mit dem deutschen Volkskörper bewerkstelligt werden. Die Steigerung der Verkehrsmittel galt ihm überhaupt als der wesentlichste Hebel des Fortschritts im Völkerleben. Sein Wahlspruch war: penna et ferro, und „wie er mit der einen Hälfte seines Wahlspruchs den Begriff des geistigen Lebens überhaupt und seiner stetig höheren Entwicklung verband, so war ihm die andere nicht das Sinnbild von der Macht des Schwertes allein, sondern des Eisens als Träger der Cultur, des Pfluges wie der Dampfmaschine als Basis der Völkerentwicklung und des Völkerverkehrs“.
In einer Denkschrift, die O. im J. 1856 über die Aufgaben der Allgem. Zeitung an den Baron Cotta richtete, waren zwei Grundgedanken vorangestellt: Freiheit als eine Function der Bildung und die Einheit Deutschlands durch die Einigung der materiellen Interessen. Die Zeitung wolle das versöhnende Band sein zwischen Norddeutsch und Süddeutsch, Preußen und Oesterreich, Katholiken und Protestanten, Schutzzöllnern und Freihändlern, eine Aufgabe, die durchzuführen freilich eine tägliche Selbstaufopferung auferlege. Allen deutschen Regierungen wolle sie ein zuverlässiger Freund sein. Vor allem sei sie freilich thätig für Oesterreich. „Sie gesteht ein, daß dieses Land immer ihr Lieblingskind gewesen – wenn man so sagen darf –, vielleicht weil es die meisten Schmerzen ihr gemacht.“ Aber des Verdienstes dürfe sie sich rühmen, beigetragen zu haben, daß das Donaureich überhaupt deutsch geblieben. Cotta war mit dem Inhalt der Denkschrift einverstanden, behielt sie jedoch in seinem Archiv, ohne öffentlich von ihr Gebrauch zu machen. Dieselben Gedanken hat aber O. öfters in immer neuen Wendungen ausgesprochen, so in seiner Rede im Vogt’schen Proceß, im Brief an Bennigsen und in anderen Briefen. Die Allgemeine Zeitung, schrieb er einmal im J. 1858, sei nicht eine großdeutsche Zeitung, sondern, wenn man den Ausdruck verstehe, eine hochdeutsche. Unser Ziel ist „die Realisirung einer mitteleuropäischen Weltmacht, wie wir sie als nach hundert und aber hundert Jahren erreichbar annehmen, knüpfen weder an Oesterreich noch Preußen an, sondern an ein erst aus allen Stämmen werdendes, wie es etwa die hochdeutsche Sprache aus [569] allen Dialekten geworden. Einen Seitenblick auf dieses Ziel zu werfen, ist schon erlaubt; zunächst muß aber nur Concretes gewollt werden, leicht Greifbarliches; wir wollen keinem Phantom nachjagen, sondern stets morgen einen Gewinn einheimsen, jenes Ziel soll bloß die Richtung andeuten, in der wir vorwärts kriechen möchten“.
Vom Jahre 1858 an durfte er neben Kolb und Altenhöfer seinen Namen unter die Zeitung setzen. Die Eigenthümer in Stuttgart hatten eingewilligt, „vorausgesetzt, daß vorher eine Verständigung mit ihm über wichtige Punkte stattgefunden, und wenn bis dahin störende Manifestationen, die sein Zeichen tragen, in der A. Z. nicht vorkommen würden.“ Aber weder die Seufzer des Herrn v. Cotta über sein jugendliches Temperament, noch der Mißerfolg seiner reformatorischen Absichten an der Zeitung waren im Stande, ihn in seinem Diensteifer irre zu machen. Gegen sich, wie gegen Andere, kannte er keine Schonung. Seine Hauptarbeit hatte er in die Nachtzeit verlegt. Die Pariser Post kam am späten Abend nach Augsburg. Nach einem raschen Ueberblick über die Briefe und die Zeitungen setzte er die Feder an, im gesteppten, schwarzen Seidenwams oder auch im schwarzen Frack an seinem Pulte stehend, sehr im Gegensatz zu der Bequemlichkeit, die sich die Collegen in ihrem Aeußeren gestatteten. So stand er die halbe Nacht, in fliegender Hast die Bogen mit den Philippiken gegen den zweiten December beschreibend, die anderen Tages in der Zeitung erschienen. War eine Seite voll geschrieben, so flog der Bogen mit einer raschen Handbewegung zu Boden, wo der Laufbursche sie eilig aufhob und in den Setzersaal trug, indessen die Feder bereits über das nächste Blatt hinflog. Der leidenschaftliche Eifer steigerte sich mit dem verhängnißvollen Jahre 1859. Was er schon längst von den Anschlägen Napoleon’s prophezeit hatte, begann sich jetzt zu erfüllen. Die Verschwörung gegen den Frieden Europas, die Wiederaufnahme der napoleonischen Tradition, der Umsturz der Verträge von 1815 lag jetzt vor Aller Augen enthüllt, und nun galt es zum Kampf gegen den Friedensbrecher alle Kräfte, vor allem die gesammte Macht Deutschlands aufzurufen. Denn darüber konnte kein Zweifel sein, daß, wenn Louis Napoleon mit Oesterreich anfing, dann die Reihe an Preußen kam, daß sein eigentliches Ziel die Rheingrenze war. Es galt also, am Po den Rhein zu vertheidigen – so lautete das Dogma, das nun in den Spalten der A. Z. verkündigt wurde. Keine Einwendungen wurden angehört, jeder Widerspruch, wo er laut wurde, niedergeschlagen. Cotta selbst drängte und schürte in dieser Richtung, Stimmen in demselben Sinne mischten sich von allen Seiten ein, O. aber war insofern der Hauptführer dieser Bewegung, als er tagtäglich mit einer bewundernswerthen Zähigkeit und Ausdauer, mit einer unversieglichen Beredsamkeit den Kampf gegen den Bonapartismus wie gegen einen persönlichen Feind führte.
Unstreitig hatte der Gedanke, daß Alldeutschland einmüthig gegen den corsischen Eroberer zusammenstehen müsse, etwas Bestechendes und Hinreißendes. Oesterreich beizustehen schien nicht bloß Preußens deutsche Pflicht, sondern auch sein einziges Heil. Auch von gut preußischer Seite ist damals der Eintritt in die Action befürwortet worden. Mußte nicht gerade eine entschlossene nationale Politik dazu dienen, die Stellung Preußens in Deutschland zu heben? Die Debatte drehte sich, als der Krieg wirklich zum Ausbruch kam, nur darum, wann Preußen in die Action treten solle, und mit welchen Vorbehalten und welchen Bedingungen. Neutralität oder gar eine großpreußische Actionspolitik, die sich auf die Freundschaft des französischen Kaisers stützte – Stimmen in diesem Sinne sind damals nur sehr vereinzelt laut geworden. In Augsburg aber hieß es: keine Vorbehalte und keine Bedingungen, mit [570] Oesterreich durch dick und dünn, und zwar ohne Aufschub, und in den Schranken der Bundeskriegsverfassung. Heinrich v. Sybel hatte eine Beleuchtung der von Oesterreich mit den mittelitalienischen Höfen abgeschlossenen Verträge, die den nächsten Beschwerdepunkt Sardiniens bildeten, nach Augsburg gesandt; Kolb hatte sie aufgenommen, aber, wie es seine Art war, mit kritischen Anmerkungen verbrämt.
Im Mai kam Sybel selbst nach Augsburg herüber, um sich über die Politik Preußens mit der Redaction zu besprechen und der Zurückhaltung seiner Staatsmänner das Wort zu reden. Die Unterredung fand in Kolb’s Garten statt und wurde im wesentlichen zwischen Sybel und O. geführt. Ihr Inhalt ist aus einem Brief ersichtlich, den Sybel am 19. Mai an Kolb schrieb, veranlaßt durch einen Brief, den dieser an Liebig geschrieben hatte und der von Ed. Heyck („Die Allgemeine Zeitung“ S. 127) veröffentlicht worden ist. Sybel verwahrte sich gegen die ihm von Kolb unterstellte „Gothaer Gesinnung“. „Herr Orges wird sich vielleicht erinnern, daß unser Gespräch sich durchweg um die Frage drehte, ob es wünschenswerth sei, daß binnen sechs Wochen am Rhein losgeschlagen würde. Ich erkannte das Gewicht seiner Gründe an, konnte aber trotzdem meine Gegengründe nur für überwiegend halten. Diese bestanden wesentlich in der Meinung, daß (im deutschen und österreichischen Sinne) die Position in Italien stark, die am Rheine schwach sei, daß es also im Interesse unser Aller liege, die Franzosen sich an der starken Position verbluten zu lassen, ehe man an der schwachen den Kampf eröffne … Ich habe 1850 Gothaer und Erfurter Politik mitgemacht, stehe aber nicht an, zu erklären, daß meine Ansichten darüber sich längst modificirt haben. Mein Gothaerthum besteht seit Jahren in dem einfachen Wunsche, den jeder Protestant in Europa mit mir theilt, daß, so weit in und innerhalb des Bundes und der Bundesverfassung eine der Großmächte vorwiegenden Einfluß haben kann, dieser bei Preußen und nicht bei Oesterreich sein möge. Ich sehe nun in der heutigen Krisis so gut wie Sie von ihrem Standpunkte, daß Preußen eine solche würdige und einflußreiche Stellung nicht durch Zank gegen Oesterreich, sondern nur durch Unterstützung desselben, nicht durch faules Stillesitzen, sondern nur durch lorbeerreiches Vorgehen gegen den Nationalfeind gewinnen kann. Ich habe, wo ich wirken konnte, in diesem Sinne gewirkt, und vor drei Wochen in Berlin bereits auf allen Seiten die Aufstellung eines Observationsheeres am Rhein gepredigt. Ich habe, wo ich gekonnt, jedem Symptom Gothaischer Gelüste mich in den Weg gestellt, aber glücklicherweise nicht viel von Gothaerthum zu Gesicht bekommen … So weit ich sehen kann, geht es Ihnen mit den Gothaern überhaupt, wie mit mir insbesondere. Sehen Sie ernstlich zu, so werden Sie geringes Material für diese Gothaer Umtriebe finden. Mir scheint, daß das Polemisiren dagegen die Sache der deutschen Eintracht wenig fördern, die denuncirten Pläne eher ins Leben rufen wird.“ Der Versuch Sybel’s, in Augsburg einer leidenschaftsloseren Beurtheilung der Lage Eingang zu verschaffen, hat nur dazu gedient, die gegenseitige Entfremdung und Gereiztheit zu steigern. In der Broschüre, die Sybel zu Ende des Jahres anonym erscheinen ließ: „Die Fälschung der guten Sache durch die Allgemeine Zeitung“ hat er vornehmlich O. für die Haltung des Blattes und die ganze Stimmung Süddeutschlands verantwortlich gemacht.
Den Kriegsereignissen in Italien folgte O. mit dem Interesse des geschulten Officiers. Aber die Oesterreicher durften nicht unterliegen, und als sie die Schlachten verloren, rückwärts und rückwärts gedrängt wurden, that er das Menschenmögliche, das rollende Rad der Geschichte aufzuhalten. Er stutzte die Kriegsberichte nach seinem Ermessen zu, stemmte sich dem bald einreißenden [571] Pessimismus entgegen, stellte die Dinge dar, wie er sie durch „gefärbte Gläser“ sah, und vertheidigte dies damit, daß der Tagesschriftsteller, wo vaterländische Interessen auf dem Spiele stehen, ganz andere Aufgaben und Pflichten habe, als der Geschichtschreiber oder der militärische Kritiker. Für die Politik, die in Augsburg gemacht wurde, hat der plötzliche Friedensschluß eine schwere Enttäuschung sein müssen. Für O. war er fast ein persönliches Fiasko. Unermüdlich war die alldeutsche Action gegen den Friedensbrecher gepredigt worden; nun waren gerade, weil die alldeutsche Action in Sicht war, die Waffen niedergelegt worden. Doch mit verzweifelter Hartnäckigkeit wehrte sich O. gegen das Unabänderliche. Auch nach Abschluß des Waffenstillstands beschwor er den Kaiser von Oesterreich, den Krieg fortzusetzen, ja er machte es, nachdem Franz Joseph und Napoleon sich bereits verständigt hatten, Preußen zur Pflicht, sofort den Krieg zu erklären, und zwar in Unterwerfung unter die Bundesverfassung, „der auch Oesterreich und die reindeutschen Staaten sich unterwerfen.“ Von da an erst hat sich auch O., dessen Sprache sonst etwas Gehaltenes, an Staatsschriften Erinnerndes hatte, immer mehr in eine verbissene Polemik gegen Preußen hineingeschrieben. Dem Frieden von Villafranca folgten die gegenseitigen Anklagen zwischen Oesterreich und Preußen, folgte der erregte Meinungskampf über die Verbesserung der deutschen Bundesverfassung, folgten die Anläufe zu einer Organisation der öffentlichen Meinung im nationalen Sinne, während die Allg. Zeitung immer einseitiger ihre Stellung auf der großdeutschen Seite nahm und damit viele ihrer alten Freunde sich entfremdete.
Währenddem wurde sie der Gegenstand eines Beleidigungsprocesses, bei dem O. die Rolle des Repräsentanten des Blattes zufiel. Aus Londoner Flüchtlingskreisen war ein heftiger Angriff auf Karl Vogt in Genf erfolgt, dem vorgeworfen wurde, daß er, der Leibpublicist des Prinzen Napoleon, mit französischem Gelde bestochen sei und Andere zu bestechen versucht habe. Im Lager der Flüchtlinge von 1848 herrschte nämlich grimmige Entzweiung, die aus Anlaß des italienischen Krieges zum Ausbruch kam. Die Einen hielten zu Frankreich und begünstigten seine Politik in Italien, während die Anderen einen unauslöschlichen Haß auf L. Napoleon geworfen hatten, den sie auch in seiner Nationalitätenpolitik bekämpften. Jenen Angriff auf Vogt, der in einem Londoner Flugblatt verbreitet war, hatte die Allgem. Zeitung durch dessen Abdruck übernommen, und dies veranlaßte Vogt zu einer gerichtlichen Klage, mit der er das Hauptorgan der österreichischen Politik zu treffen gedachte. Die gerichtliche Verhandlung fand am 21. October in Augsburg statt. Von den verklagten drei Redacteuren war O. persönlich erschienen. Der kranke Kolb hatte sich mit einer öffentlichen Erklärung begnügt und Altenhöfer that, als ob ihn die Sache gar nichts anginge. O. aber ergriff gerne die Gelegenheit, das Programm der Allgem. Zeitung ausführlich zu entwickeln, ihre Politik zu vertheidigen, die patriotischen Beweggründe bei ihrem Angriff auf den Reichsregenten von 1849 ins Licht zu stellen. Man fand, daß sein Auftreten nicht frei von Selbstgefälligkeit und Geziertheit sei. Auch hat ihm später Vogt einen übermäßigen Gebrauch von Glacéhandschuhen vorgerückt. In der Duplik war es, wo O. das berühmte Wort sprach, die Allgem. Zeitung sei nicht für die Crapule geschrieben, sie sei ein Blatt für Fürsten, Staatsmänner und Diplomaten. Natürlich konnte der Beweis, daß Vogt bestochen sei, nicht geführt werden, der Staatsanwalt aber beantragte Abweisung der Klage, da das Bezirksgericht nicht zuständig sei und die Sache, wenn sie weiter verfolgt werden solle, vor das Schwurgericht zu bringen sei. So lautete denn auch der salomonische Gerichtsspruch, der am 29. October verkündigt wurde. [572] Vogt, dem es bloß darauf ankam, die Sache an die große Glocke zu hängen, verfolgte sie nicht weiter und begnügte sich, die Acten des Processes zu veröffentlichen und in seiner Weise zu commentiren. Der Ausgang war für die Allgem. Zeitung noch der denkbar günstigste gewesen und der Proceß war bald wieder über Wichtigerem vergessen, zumal da kurz darauf die Feier von Schiller’s hundertstem Geburtstag stattfand, die für eine Zeitlang allen politischen Hader in den Hintergrund drängte. Die Allgem. Zeitung aber fühlte zwiefach den Beruf, sich zum lautesten Herold des Festjubels zu machen, als Organ des Pangermanismus und als Cotta’sches Institut, bei dessen Geburt einst Schiller Pathe gestanden. O. selbst war unermüdlich, vorher und nachher, die Feier in das Licht eines allgemein vaterländischen Aufschwungs zu stellen und damit in das Fahrwasser der Zeitung zu leiten. Doch der Gottesfriede, den die Feier gebracht hatte, hielt nicht lange vor; bald genug begannen wieder die gegenseitigen Anklagen und Verdächtigungen, verschärft durch die Bildung des deutschen Nationalvereins. O. selbst aber besaß Elasticität genug, um auch unter den veränderten Umständen an seinem alldeutschen Programm festzuhalten und mit immer neuen Mitteln für dasselbe zu wirken.
Schon im April 1859, als Oesterreich um die Bundeshülfe warb, war er mit dem Herzog Ernst von Sachsen-Coburg in Verbindung getreten. Durch dessen Cabinetschef v. Meyern hatte er den Wunsch ausgesprochen, daß der Herzog die Stelle des Bundesfeldherrn erhalte und ihm die Dienste der Allgem. Zeitung zu diesem Zwecke angeboten. Der Herzog war weise genug, dieser Lockung zu widerstehen, die Verbindung mit O. blieb aber auch in der Folge unterhalten. „Ich hatte“, so erzählt der Herzog in seinen Denkwürdigkeiten, „genauere Beziehungen zu Herrn Orges, sah ihn häufig und ließ durch meinen Cabinetschef mit demselben einen intimeren Briefwechsel führen.“ Zu Anfang des Jahres 1860 machte sich O. als freiwilliger Diplomat auf zu einer Rundreise an die Höfe, um deren Gesinnungen gegenüber den friedenbedrohlichen Plänen des 2. December, die sich aufs neue jetzt eben im schweizerisch-savoyischen Handel enthüllten, zu erkunden oder zu befestigen. Er hat von dieser Reise, die nach Berlin und über Warschau nach Wien ging, fortlaufende Berichte nach Coburg gesandt, die durch O. Lorenz in Bettelheim’s Biographischen Blättern veröffentlicht worden sind. In Berlin wurde der einst aus den Listen der preußischen Armee gestrichene Officier vom Prinzen von Preußen, vom Ministerpräsidenten Fürsten Anton von Hohenzollern und anderen Staatsmännern empfangen. Sein allgemeiner Eindruck von der preußischen Politik war der einer außerordentlichen Unklarheit und Unsicherheit: keine Disciplin, kein Zusammenwirken unter den eigentlichen Diplomaten, die z. Th. Politik auf eigene Faust machen. Indessen empfing er vom Fürsten von Hohenzollern Versicherungen, wie er sie nicht besser wünschen konnte: keine ehrgeizigen Pläne, Zusammengehen mit Oesterreich in allen äußeren Fragen, Bekämpfung der Präponderanz L. Napoleon’s, darum bessere militärische Organisation in Preußen und im Bundesheer; endlich Rückendeckung durch Rußland. Diese Erklärungen sollte er nach Wien übermitteln. Dort zeigte sich allerdings Verstimmung über Preußens Nichtaction, die Oesterreich zum Friedensschluß gezwungen habe, auch habe die Handlungsweise der preußischen Diplomatie den uneigennützigen Versicherungen ihrer Regierung nicht entsprochen. Gleichwohl fand er auch hier Alles vom besten Willen beseelt: L. Napoleon glaube Oesterreich und Preußen entzweit zu haben, allein er täusche sich, wenn er glaube, Oesterreich werde einem Angriff auf den Rhein unthätig zusehen, die Oesterreicher würden im Fall der Gefahr noch eher am Rhein stehen als die Preußen. Versöhnung [573] mit Preußen, sagte der Kaiser, sei sein innigster Wunsch. „Es ist offenbar in den höchsten Kreisen der beste und deutscheste Wille, aber es fehlt in den übrigen Kreisen. Fünfzigjährige Uebelstände lassen sich nicht über Nacht abstellen und tüchtige Kräfte nicht aus dem Boden stampfen.“ Von den Ministern hielt O. nicht viel, mit Ausnahme des Frhrn. v. Bruck. Von der Genialität dieses großen Staatsmanns sei für die innere Neugestaltung des Reiches das meiste zu hoffen. „Er ist der Hort Oesterreichs und vor allem des Deutschthums in ihm.“ „Eins ist gewiß, daß die Regierung nie Deutschland aufgeben wird. Emsig und stetig voran arbeitet Oesterreich auf ein den deutschen Zuständen sich näherndes Niveau hin, um die Nationalitäten in ihrer Abgeschlossenheit durch die Macht des Verkehrs und die Macht der Bildung zu besiegen.“
O. selbst war von dem Erfolg seiner Reise offenbar sehr befriedigt. „Wenn man in Wien jetzt einen Unterschied macht zwischen dem, was der Prinz-Regent gewollt, und dem, was seine politischen Agenten gethan, so ist das zum Theil wenigstens mein Verdienst.“ Im März berichtet er nach Coburg auch von einer Audienz, die er beim König Max II. von Baiern gehabt, dem er gleichfalls seine Ansicht über die politische Lage „im Sinn der innern Einheit und des Friedens und des Kampfes nach außen“ entwickelte. Mit Coburg stand er fortdauernd in lebhaftem Verkehr. Daß unter den Auspicien des Herzogs der Nationalverein gegründet worden war, hatte diese Beziehungen nicht gestört. Im Gegentheil: O. gab sich der Hoffnung hin, die nationale Bewegung, die sich in diesem Verein organisirte, und gegen die sonst in der Allgem. Zeitung eine heftige Polemik geführt wurde, ins großdeutsche Fahrwasser einlenken zu können. Am 27. März richtete er an Rudolf v. Bennigsen einen Brief, der mit weitschweifiger Rhetorik den Begründer des Nationalvereins für das großdeutsche Programm zu gewinnen suchte. O. stellte sich ihm als „echter Sachse“, als „der Erbe Justus Möser’s“, aber zugleich als Positivisten, als Anhänger August Comte’s vor. Der merkwürdige Brief, der „die Entwicklung unserer Nationalität“ als oberstes Ziel an die Spitze stellte, enthielt folgende charakteristische Sätze: „Wir Deutschen sind noch in dem Jugendalter unserer nationalen Entwicklung (Auswanderungstrieb – Wanderlust der Völker – Colonien), der Zeit der Fruchtbarkeit. Die Romanen haben diese Periode lange hinter sich, sie sind im Absterben begriffen. Die Portugiesen sind todt, Spanier und Italiener in Agonie und die Franzosen auf dem besten Weg dahin … Sie wollen Deutschland groß machen unter Preußens Führung. Zur Weltmacht wird es auf diesem Wege nie, denn nur eine Weltmission ist für uns offen, das ist die Cultivirung und Assimilirung der unteren Donauländer und dadurch Wiedererhebung (Ausbeutung) des Orients. Wir brauchen die maritime Entwicklung, aber eine Weltmission nach Westen zu besteht für uns nicht. Sie geben mit Preußens Hegemonie die Weltmacht auf … Erobert uns Preußen, so werden wir preußisch statt deutsch, denn eine leichte Ablenkung unserer Nationalität durch den herrschenden Geist ist möglich. Erobern wir das Donaureich, so muß es deutsch werden. Alles Große in Preußen, was Scharnhorst, Aster, Stein, Hardenberg, Vincke, geschaffen, ist deutsch, nicht preußisch. Das eigentliche Preußenthum ist ein mit Slaventhum durchtränktes Deutschthum, das eben wegen der slavischen Mischung das echte Bureaukratenthum, den Tschin, erzeugt und stets erzeugen wird. Dem Selfgovernment, dem eigentlichen Deutschthum ist es entfremdet. Es wird dasselbe wohl annexiren, es formuliren, es ausnützen können, aber schaffen kann es nichts, das Preußenthum ist kein schöpferisches Moment, weil es kein ursprüngliches, kein originales ist … [574] Oesterreich ist ein großes Wildland für deutsche Cultur. Was, wir Deutschen haben halb Nordamerika für deutsche Cultur gewonnen und sollen aufgeben, was uns gehört! Sie, der Kleindeutsche, rechnen mit Kräften, die sind, mit den Zuständen, die vorliegen, ich rechne mit denen, die werden, auf die Zukunft speculire ich.“ Dazu auch hier das Lob des Barons Bruck: „ein Staatsmann ersten Ranges, wahrscheinlich der größte Staatsmann Europas. Er ist ein Genie, der die große Zukunft Oesterreichs erarbeiten will.“ Wenige Wochen vor dem tragischen Ende des Ministers, das für O. eine seiner grausamsten Enttäuschungen war.
Vielleicht, daß eine mündliche Aussprache mit den Führern des Nationalvereins wirksamer war als eine briefliche Auseinandersetzung. Der Herzog, der damals die Vereinigung aller Parteien zu einer großen Demonstration gegen Napoleon im Sinn hatte, wünschte sie, wie O. sie wünschte, und so erschien dieser am 13. Mai in Gotha aus Anlaß einer dortigen Vorstandssitzung des Nationalvereins. Die Besprechung mit Bennigsen, Fries und Streit dauerte mehrere Stunden. Ein praktisches Ergebniß hatte sie nicht. Ebensowenig ein Vorschlag, den O. kurz darauf in der Allgem. Zeitung machte, daß der Verein auf Grund der Thronrede des Prinzregenten vom 12. Januar sein Programm abändere. Am 31. Mai schrieb der herzogliche Cabinetssecretär Bollmann an Bennigsen, O. wolle einen allgemein deutschen Verein „zur Wahrung und Förderung der Unabhängigkeit und Freiheit Deutschlands und des deutschen Volkes“ gründen, der unter 9 Männern stehe, 3 Preußen, 3 Oesterreichern und 3 „Reindeutschen“, als die drei letzteren habe er im Auge: den Herzog, Heinrich v. Gagern und Gustav v. Lerchenfeld. Endlich, am 6. Juni, war O. in Heidelberg bei A. L. Rochau, dem Herausgeber der Wochenschrift des Nationalvereins, der aber kurzweg an Streit darüber schrieb: „Der Mensch ist im Grund genommen ein Windbeutel und Faselhans.“
Das war ein sehr oberflächliches Urtheil. Daß Orges’ Bemühungen um eine Vereinigung der Parteien auf einer ernsthaften patriotischen Ueberzeugung beruhten, ist nicht zu bezweifeln. Zugleich aber verräth sich in ihnen eine unruhige Geschäftigkeit, eine fieberhafte Erregung, die sich bei dem Mißerfolg, den ihm der Gang der Ereignisse bereitete, nur immer steigern mußte. Schon im J. 1859 hatte O. Meding bei einem Besuch in Augsburg an ihm eine „fortwährende nervöse Irritation“ bemerkt, „welche sich auch in seinem zitternd unruhigen Geberdenspiel und in seinen fast fieberhaft glänzenden Augen bemerkbar machte“. Die aufreibende Redactionsthätigkeit mit ihrer Nachtarbeit blieb nicht ohne Einfluß auf seine Gesundheit. Er war ein eigenwilliger College, mit dem schwer auszukommen war, und mit Kolb, dessen Kräfte kaum mehr der Leitung gewachsen waren, kam es zu peinlichen Auftritten. Aber auch die Eigenthümer der Zeitung in Stuttgart wurden stutzig, als sie sahen, wohin O. ihr altes solides Institut führte. Schon nach dem Ausgang der oberitalienischen Schlachten wünschten sie mehr Maß in der Parteinahme für Oesterreich; auch das persönliche Sichvordrängen und die diplomatischen Freiwilligendienste ihres Redacteurs konnten ihnen nicht angenehm sein; daß er ganz die Zügel der Zeitung an sich reiße, war durchaus gegen ihren Willen. So kam es zu Zerwürfnissen, die den Wunsch einer Trennung nahelegten. Im Frühjahr 1864 löste O. seine Verbindung mit der Zeitung. Längst hatte er in Wien mit einflußreichen Personen Beziehungen angeknüpft. Im Mai wurde er in den österreichischen Unterthanenverband aufgenommen. Dort durfte er auf Dank für seine hingebenden und uneigennützigen Dienste hoffen. Der Dank bestand darin, daß er zuerst im Handelsministerium angestellt und dann im auswärtigen Amt von Herrn v. Beust für das Preßbureau verwendet [575] wurde. Am 2. März 1865 erfolgte seine Erhebung in den erbländischen Ritterstand und am 30. Mai 1866 erhielt er den Titel und Charakter eines k. k. Regierungsraths, sowie den Orden der eisernen Krone III. Classe. Den Franz-Josefsorden hatte er schon nach dem Vogt’schen Proceß erhalten. Auch von mehreren Mittelstaaten war er mit Orden, u. a. mit dem Welfenorden, ausgezeichnet worden.
Mit seiner Uebersiedlung nach Wien verschwindet er aus der Oeffentlichkeit. Ein Jahrzehnt noch hat er dem Donaureich seine Dienste gewidmet, aber sein Name wird kaum mehr genannt. Nach den Mittheilungen J. Fröbel’s hat er es dort, wie schon in seinen letzten Augsburger Jahren, mit der absolutistischen Militärpartei gehalten, mit der kriegseifrigen Camarilla, die sich im J. 1866 mit den abenteuerlichsten Reactions- und Restaurationsplänen trug, von Wiederherstellung des Kirchenstaats, Zurückeroberung der Lombardei, Vernichtung der preußischen Macht und Herrschaft in Deutschland träumte. Noch im J. 1868 habe er eine Verständigung zwischen Oesterreich und Preußen für unmöglich und auch im Geiste des Kaisers Franz Josef für undenkbar erklärt; niemals werde Oesterreich den Anschluß Süddeutschlands an den norddeutschen Bund zulassen u. s. w. Der kriegerische Ton der Correspondenzen, die er für auswärtige Blätter schrieb, sei selbst Herrn v. Beust zuweilen unbequem gewesen. Befriedigung hat er auch in seiner Wiener Stellung nicht gefunden. Der ehemalige preußische Officier mochte sich innerlich in einer unbehaglichen Stimmung fühlen, und O. Lorenz hat es geradezu ausgesprochen, wofür aber Documente fehlen, er habe, wie so viele deutsche Männer in dem damaligen Wien, eine Sache vertheidigt, an die er nicht glaubte. Wie dem sei, das darf als sicher gelten, daß die Erwartungen, mit denen er nach Wien ging, unerfüllt blieben. Er glaubte, auf einen bessern Dank Anspruch zu haben. Er hatte sich in die Rolle eines zweiten Gentz geträumt, und die blieb ihm versagt. Alter Neigung folgend hat er später neben seinen Berufsgeschäften zugleich die Führung einer Landwehrschwadron als Major übernommen. Er hat noch den Umsturz des „zweiten Decembers“ erlebt durch dasselbe „Kleindeutschland“, gegen das er sich so leidenschaftlich angestemmt, und er sah die Erhebung des Hohenzollernhauses, über das er so geringschätzig urtheilte. Es war sein Schicksal, daß er sich täuschte in der Werthung der politischen Kräfte, deren Gegenspiel die Geschichte jener Jahre beherrschte, und so hat er sich, eine scharf ausgeprägte Individualität, ausgezeichnet durch Anlagen und Kenntnisse, von starker Willenskraft und von weitgespannten Idealen erfüllt, doch ein Geist mehr von zersetzender als von schöpferischer Art, ehrgeizig und von ungemessenem Selbstgefühl, aufgezehrt in unmöglichen Entwürfen, die sich zuletzt ins Phantastische verloren. Ein grausamer Unfall hat im Juni 1874 seinem Leben ein Ende gemacht. In einem überfüllten Wagen der Trambahn von Dornbach nach Wien stand er auf einem Tritt der Plattform, als ihm sein Spazierstock entfiel. Wie er ihn haschen wollte, stürzte er zu Boden und gerieth unter die Räder, die ihm über beide Füße fuhren. Er wurde ins allgemeine Krankenhaus gebracht, wo ihm am 8. Juni der linke Fuß amputirt wurde. Nach 24 qualvollen Stunden starb er am starken Blutverlust um Mitternacht zwischen dem 9. und 10. Juni 1874. Das Leichenbegängniß wurde vom auswärtigen Amt in die Hand genommen. Auf Wunsch des Verstorbenen fand es ohne jede kirchliche Ceremonie statt. Zwei verheirathete Schwestern waren an das Sterbelager geeilt. Die Leiche wurde in die Familiengruft zu Osnabrück überführt.
- Wurzbach, Biograph. Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 21. – Ed. Heyck, Die Allgemeine Zeitung. – O. Meding, Memoiren zur Zeitgeschichte, [576] Bd. 1. – Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, Aus meinem Leben, Bd. 2. u. 3. – Deutsche Revue 1905, Juli u. August. – O. Lorenz in Bettelheim’s Biograph. Blättern 1895, Bd. I, S. 339 ff. – J. Fröbel, Ein Lebenslauf, Bd. 2. – Nachruf von Prof. Bernhard von Cotta in der Allg. Zeitung 1874, Nr. 184, 3. Juli, Beilage.
[565] *) Zu Bd. LII, S. 713.