ADB:Petersen, Marie
*): Marie P. entsproß einer wohlhabenden Apothekerfamilie. Ihr Großvater Friedrich P., gebürtig aus „Schleswig im Holsteinschen“, kaufte 1780 in Frankfurt a. d. Oder ein Haus mit der darin befindlichen Apotheke „zur goldenen Kugel“ und führte den Titel „Universitätsapotheker“. Seinem zweiten Sohne Karl, der mit Wilhelmine geb. Dionysius († am 3. Januar 1833) vermählt war, wurde am 31. Juli 1816 als ältestes Kind die Dichterin Marie Louise Auguste P. geboren. Eine Verkrümmung des Rückgrates, die sich schon in den ersten Kinderjahren zeigte, nöthigte die Eltern, ihre Aelteste einer orthopädischen Anstalt in Berlin zu übergeben. Aerztliche Kunst vermochte jedoch dem Uebel nicht zu steuern. Nach dem Tode seines Vaters und seiner Frau verkaufte Karl P. 1834 die Apotheke und lebte nun ganz seiner Neigung. Neben der Erziehung der Kinder widmete er sich als unbesoldeter Stadtrath dem öffentlichen Wohle. Die Pflege der Musik war ihm Lebensbedürfniß. Seine zweite Gattin, Amalie geb. Krahmer († 1874), eine Schülerin Zelter’s, erhob sein Haus zum „musikalisch ersten“ in Frankfurt a. d. Oder. „Hier war alles stimmbegabt im höchsten Stil und durchweg geschult, daß man auch vor den schwierigsten Concertleistungen nicht zurückzuschrecken brauchte.“ In solcher Umgebung lebte Marie P. still und zurückgezogen; im häuslichen Kreise und im Verkehr mit wenigen vornehmen Naturen fand sie volle Befriedigung. Liebenswürdige Bescheidenheit und feiner Takt, gepaart mit vielseitiger Bildung, gewannen ihr die Zuneigung und Achtung ihrer Mitbürger, die von ihrer dichterischen Veranlagung kaum etwas erfuhren. Ihre zarte Gesundheit fesselte sie an die Vaterstadt. Nur selten und dann auf kurze Zeit konnte sie ihre unmittelbare Heimath verlassen. Auch äußere Ereignisse berührten oder störten ihr Stillleben nicht. Ohne krank gelegen zu haben, starb sie an einer Lungenentzündung am 30. Juni 1859.
PetersenEine Reise in den Harz, die sie im Sommer 1851 unternommen hatte, wurde die Veranlassung dazu, daß Marie P. schriftstellerisch hervortrat. Nach einem ebenso begeisterten als anmuthigen Brief über ihre Reiseerinnerungen bat ein Verwandter sie, die Freude, die sie ihm gemacht, doch auch Anderen zu bereiten dadurch, daß sie die kleine Schrift drucken lasse. Der königliche Hofbuchhändler Alexander Duncker, mit dem die Dichterin bekannt war, verlegte darauf: „Prinzessin Ilse. Ein Märchen aus dem Harzgebirge“ (Berlin 1852). Das Büchlein hatte einen solchen Erfolg, daß noch in demselben Jahre drei weitere Auflagen nöthig wurden. Eine illustrirte Prachtausgabe erschien 1857; aber erst 1868, von der 12. Auflage an, wurde dem Titel hinzugefügt: „Von Marie Petersen.“ – Unter den Eindrücken der Harzfahrt entstand auch die zweite Dichtung: „Die Irrlichter. Ein Märchen, von der Verfasserin der Prinzessin Ilse“ (Berlin 1856). Die „Irrlichter“ fanden noch mehr Anklang. Auch hier hieß es seit der 12. Auflage (1868): „Ein Märchen von Marie Petersen, Verfasserin der Prinzessin Ilse“. Eine Prachtausgabe mit Illustrationen „nach Zeichnungen von Ludwig Pietsch“ kam 1862 heraus, der 1865 noch eine „mit farbigen Illustrationen von Karl Koch“ folgte. Beide, die „Irrlichter“ sowohl als „Prinzessin Ilse“, wurden auch [577] ins Englische und Französische übersetzt. Als der Duncker’sche Verlag am 1. Januar 1870 in den Besitz der „Gebrüder Paetel“ überging, erschienen die „Irrlichter“ im gleichen Jahre in 16. Auflage, während die „Prinzessin Ilse“ 1872 als 14. Auflage zum ersten Male die neue Verlagsfirma zeigte. Das ältere Werk erreichte 1906 die 25., die „Irrlichter“ 1908 die 48. Auflage, der Neudrucke, die, nach Erlöschen des ursprünglichen Verlagsrechtes, erschienen, gar nicht zu gedenken.
Marie P. schuf unter dem Einfluß der romantischen Schule, und ihre Dichtungen zeigen nicht nur die mehr oder weniger äußerlichen Merkmale spätromantischer Werke, sondern berühren auch, freilich nur vorsichtig und ängstlich, die großen, inneren Probleme jener Bewegung, ohne jedoch einen Versuch zu ihrer Lösung anzustreben. Ihre Werke sind vielmehr ein zarter Nachhall, ein leises, melodisches Verklingen der Weise, die ihre Jugend kräftig umtönte. Sie ist eine „sentimentalisch“-romantische Dichterin, deren „Märchen“ die Zeitgenossen gern lauschten, weil sie im Geschmetter all der „garstigen, politischen“ Lieder den Sinn auf das geheimnißvolle Walten der Natur zu lenken wußte. Sinnige und geistvolle, des öfteren allerdings überzarte Naturbeseelung ist das Eigenartige, sie kennzeichnende in ihren Werken. In diesem Vergeistigen der Naturgegenstände erblickt sie das Wesen des Märchens, und so lange sie sich darauf beschränkt, folgt ihr der Leser gern. Wenn sie aber, wie in den „Irrlichtern“ über diese ihr eigenthümliche Form hinauswill, wenn sie einen Zusammenhang von Natur und Menschenschicksal aufzudecken sich vornimmt, indem sie eine novellistische Skizze in ihr Märchengerank verflicht, scheitert sie. Die graziöse Umrahmung der einzelnen Bilder wiegt den Mangel an Entwicklung der Handlung und der Charaktere so wenig auf, wie eine noch so saubere Umrißzeichnung ein farbiges Gemälde zu ersetzen im Stande ist.
- Vgl. Otto Roquette, Siebzig Jahre, Bd. 1, S. 136. – Sophie Verena, Marie Petersen. Ein Gedenkblatt, Novellenzeitung (redigirt von Alphons Dürr) Leipzig, 5. Oct. 1859, Nr. 40, S. 635–638. – Franz Brümmer, Einleitung zu seiner Ausgabe der „Prinzessin Ilse“ (Reclam); er gibt hier sowohl wie in seinem Lexikon d. deutschen Dichter u. Prosaisten des 19. Jahrhdts. (4. Aufl. III, 210) das Erscheinungsjahr beider Dichtungen falsch an. – Was im übrigen über Marie Petersen erschien: (Elise v. Hohenhausen) in der „Gartenlaube“ 1870, Nr. 19, S. 304. – (Carl Wallowy,) Eine Frankfurter Dichterin, Frankf. Oder-Zeitung 1889, Nr. 93. – Oskar Elsner, Marie Petersen’s Märchendichtungen, ebd. 1890, Nr. 148 u. 149; ist vielfach irrthümlich, im einzelnen ungenau, im ganzen willkürlich und unhistorisch.
[576] *) Zu Bd. LIII, S. 31.