ADB:Reil, Johann Christian

aus Wikisource, der freien Quellensammlung

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Reil, Johann Christian“ von Melchior Josef Bandorf in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 700–701, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reil,_Johann_Christian&oldid=- (Version vom 23. April 2024, 08:47 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
<<<Vorheriger
Reihing, Konrad
Nächster>>>
Reimann, Georg
Band 27 (1888), S. 700–701 (Quelle).
Johann Christian Reil bei Wikisource
Johann Christian Reil in der Wikipedia
Johann Christian Reil in Wikidata
GND-Nummer 118599224
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|27|700|701|Reil, Johann Christian|Melchior Josef Bandorf|ADB:Reil, Johann Christian}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118599224}}    

Reil: Johann Christian R., Arzt, wurde am 28. Februar 1759 zu Rhaude in Ostfriesland, wo sein Vater Prediger war, geboren. Nach dem Besuche der Schule zu Norden widmete er sich im J. 1779 zu Göttingen dem Studium der Medicin, siedelte später nach Halle über, erwarb sich dort (1782) den Doctorgrad, und wirkte nun nach Beendigung seiner Studien einige Jahre in seiner Heimath als praktischer Arzt. Im J. 1787 als außerordentlicher Professor der Medicin nach Halle berufen, erhielt er im nächsten Jahre die ordentliche Professur der Therapie, verbunden mit der Direction des Klinikums dortselbst, und wurde im J. 1789 noch überdies zum Stadtphysikus ernannt. Als die neue Universität in Berlin errichtet wurde, folgte er einem Rufe als innerer Kliniker dorthin. Der Befreiungskrieg unterbrach seine Lehrthätigkeit, nach der Schlacht bei Leipzig übernahm er die oberste Leitung der Kriegshospitäler auf dem linken Elbeufer. Als ein Opfer dieser Wirksamkeit starb er am 22. November 1813 zu Halle a. d. S. am Hospitaltyphus. In R. tritt uns an der Schwelle der neuesten Zeit einer der damals bedeutendsten deutschen Aerzte und medicinischen Schriftsteller entgegen. Alle Zweige der theoretischen und praktischen Medicin beherrschte er in umfassender Weise. Gleich hervorragend als innerer Kliniker, wie als Chirurg und Augenarzt, war er auf den verschiedensten Gebieten seiner Wissenschaft litterarisch productiv. Seine Untersuchungen über den Bau des Gehirns und der Nerven in „Excercitationum anatomicarum Fasc. I, de structura nervorum“, 1796, sind geradezu bahnbrechend gewesen. In dem von ihm gegründeten Archiv für Physiologie verfolgte er das Bestreben, [701] der praktischen Medicin durch innige Vereinigung mit der Physiologie eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Die einleitende Abhandlung über die Lebenskraft, welche sein Programm enthält, stellt den Satz auf, daß alle Erscheinungen entweder Materie oder Vorstellungen sind, und daß, soweit die sinnliche Wahrnehmung reicht, alle an thierischen Körpern vorkommenden Erscheinungen auf der Verschiedenheit der thierischen Grundstoffe und auf der Mischung und Form derselben beruhen. „Kraft ist das Verhältniß der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch welche sie erzeugt werden.“ Die Aeußerungen der Lebenskraft beruhen gleichfalls auf materiellen Zuständen, welche sich allerdings, hauptsächlich infolge der Unvollkommenheit der organischen Chemie und der Lehre von den Imponderabilien, der sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Da jedes Organ, namentlich jedes Gewebe, Erscheinungen darbietet, die nur ihm eigenthümlich sind, so besitzt jedes von ihnen seine besondere Lebenskraft, Irritabilität und Krankheitsanlage. Bei der Unzulänglichkeit, seine Thesen durch den damaligen Stand der Erfahrungswissenschaften zu begründen, verlor sich R. in philosophische Speculationen und gerieth auf die Abwege der Naturphilosophie, so daß er dahin gelangte, das Leben als einen „potenzirten galvanischen Proceß“ zu bezeichnen. Weniger auffallend ist diese Richtung in seinem Hauptwerke („Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber.“ 5 Bde. Halle 1799–1815), das sich durch brillante, geistreiche Darstellung, wie durch breite Basis der ärztlichen Erfahrung auszeichnet. Eine wahrhaft reformatorische Bedeutung erlangten seine „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Kurmethode auf Geisteszerrüttungen.“ 1803, in denen er wesentlich eine neue Periode in der Entwicklung der Psychiatrie anbahnte, so daß man ihn den „Urheber der psychischen Medicin“ in Deutschland nannte. In diesem von ihm selbst nur als Entwurf bezeichneten Werke verbreitete sich R. in zwangloser Form über das ganze Gebiet der Psychiatrie. Seinen Hauptwerth erhält dieses Werk durch den Versuch, die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten auf eine fruchtbare Weise an das Nervensystem anzuschließen und durch die Betonung der psychischen Kurmethode. deren Erforschung der eigentliche Zweck der ganzen Abhandlung ist. R. giebt ihre Entwicklungsgeschichte, stellt ihren Begriff fest und spricht dann des Weiteren über die einzelnen Mittel. Vor allem deckte er die Schäden der bisherigen Irrenanstalten rücksichtslos auf. In einem späteren Anhange zur Uebersetzung von Cox, „Praktische Bemerkungen über die Geisteszerrüttung“ (1811) gab er Beiträge zur Organisation der Versorgungsanstalten. Für Berlin und Halle verlangte er, daß Heilanstalten, verbunden mit Lehrstühlen der Psychiatrie errichtet würden, seine Bemühungen scheiterten an der Ungunst der politischen Zustände und an seinem frühen Tode. Kein geringes Verdienst erwarb sich auch R. dadurch, daß er zuerst die periodische Litteratur für die Psychiatrie angeregt hat. Das erste psychiatrische Journal, „Magazin für psychische Heilkunde“ gründete er mit dem Naturphilosophen Kayßler (1803 bis 1805), später gab er mit dem Philosophen J. Ch. Hoffbauer von 1808–1812 „Beiträge zu einer Curmethode auf psychischem Wege“ heraus.

Steffens, Johann Christian Reil, eine Denkschrift. Halle 1815.